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Was vom Tage übrig blieb: Lego, Landluft und Lauscher

Netzpolitik - Tue, 04/08/2020 - 17:00

The UX of LEGO Interface Panels (designedbycave.co.uk)
Wunderbar-nerdige Betrachtung von mindestens 52 verschiedenen Lego-Kontrollpanel-Klötzchen im Hinblick auf Design und User Experience.

Google’s secret home security superpower: Your smart speaker with its always-on mics (Protocol)
Wenn Google dir mitteilt, dass dein Rauchmelder angegangen ist, weil der Smartspeaker das erkannt haben will, hat das zwei Seiten: zum einen gruselig, zum anderen sicher praktisch. Das Feature wurde nun wohl bei einigen Nutzern aus Versehen freigeschaltet.

Golem on Edge: Wo Nachbarn alles teilen – auch das Internet (Golem.de)
Da auch die Golem.de-Kollegen im Home Office sind, ergeben sich auch dort die üblichen Herausforderungen. Sebastian Grüner berichtet dabei immer wieder von seinen eigenen, vor denen er beim Versuch steht, aus seiner Datsche auf dem Land zu arbeiten. Diesmal: ein neuer Versuch mit LTE, über den sich auch die Nachbarn freuen.

Jeden Tag bleiben im Chat der Redaktion zahlreiche Links und Themen liegen. Doch die sind viel zu spannend, um sie nicht zu teilen. Deswegen gibt es jetzt die Rubrik „Was vom Tage übrig blieb“, in der die Redakteurinnen und Redakteure gemeinschaftlich solche Links kuratieren und sie unter der Woche um 18 Uhr samt einem aktuellen Ausblick aus unserem Büro veröffentlichen. Wir freuen uns über weitere spannende Links und kurze Beschreibungen der verlinkten Inhalte, die ihr unter dieser Sammlung ergänzen könnt.

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Transparenzbericht: Unsere Einnahmen und Ausgaben und weitermachen, als wäre nichts

Netzpolitik - Tue, 04/08/2020 - 16:25

Auf der Arbeit sollen alle gleich sein. Ein Haus im Grünen, 40 m² in Kreuzberg, ein WG-Zimmer in einer WG mit drei Leuten oder dreißig. Ein Mensch im eigenen Haushalt, kein Mensch im eigenen Haushalt, zu viele Menschen im eigenen Haushalt. Einsamkeit oder Alleinsein. Keine Kinder, ein Kind, zwei Kinder, zwei Eltern, alleinerziehend. Doppelter Boden oder nur diesen einen.

Alle sollen gleich performen. Auch im Home Office unter verschiedensten Umständen. Ist das fair? Die Frage ist schon lange beantwortet. Es ist nicht fair. Darüber wurde tausendmal geschrieben. Das ist keine neue Erkenntnis. Höchstwahrscheinlich ist nichts eine neue Erkenntnis, aber darum soll es nicht gehen.

Sondern: Wie wird man allen gerecht, wenn alle in ungleichen Welten lebend mit verschiedensten Vereinbarkeitsproblemen konfrontiert sind? Die unterschiedlichen Lebensrealitäten nur vereinzelt zu berücksichtigen, war schon in vorpandemischen Zeiten ein Problem, aber jetzt steht es als dieser riesige, unübersehbare Elefant im Raum.

Ich kann nicht. Ich will nicht.

Egal, wie viel Freude ein Job macht: Spaß bedeutet, jederzeit aufhören zu können. Das ist kulturgemäß im Job nicht so. Dinge müssen erledigt werden. Aber nun sollen sie unter völlig anderen Umständen erledigt werden. Das ist absurd. Die Anpassungsleistung, die alle aufbringen, ist noch größer geworden, während die Ausbruchsmöglichkeiten schwinden. Das letzte Mal getanzt habe ich 2019.

In den letzten Monaten versuchten sogar alle, sich noch mehr zusammenzureißen, damit man auf der Startseite von netzpolitik.org die Pandemie nicht sieht. Aber diese Startseite wird halt von Menschen gemacht. Und egal unter welchen Umständen steckt das niemand einfach alles so weg. Aber gibt es dafür genug Raum?

Nicht zu können, wurde schon immer eher toleriert. Es gab legitime Gründe, nicht zu können: Krankheit, voller Terminplan, Pflege- und Fürsorgebedürftige im nahen Umfeld. Doch auch hier gibt es Grenzen. Das Backen einer Torte für den Geburtstag der Oma zählte nicht zu den legitimen Gründen. Nicht zu wollen, war hingegen nie besonders akzeptiert. Das war schon in vorpandemischen Zeiten kein legitimer Grund für Arbeitsverweigerung. Es ist immer ein Affront, etwas innerhalb der Lohnarbeit nicht zu wollen. Egal, wie progressiv ein Laden sein will.

Aber wie schön wäre es, einfach sagen zu können: „Ich will heute nicht. Und vielleicht will ich die ganze Woche nicht.“

Dieses Gefühl zuzulassen, behebt sicher nicht alle Probleme, aber es ist ein Anfang, um dem Leben und seinen Unwägbarkeiten im Job Raum zu geben. Denn, wie kann Arbeit planbar sein, wenn es das Leben nicht ist?

Selbst die Welt sein, die wir wollen

Wenn es darum geht, sich mal was Gutes zu tun, höre ich häufig: „Aber wir haben eine Verpflichtung gegenüber allen, die uns spenden.“ Das stimmt. Aber spendenfinanziert zu sein, bedeutet offenbar in der eigenen Wahrnehmung häufig noch, am besten für Mindestlohn zwölf Stunden am Tag auf einem wackeligen Bürostühl oder auf einem Sitzsack zu ackern. Ich sehe das nicht so. Für eine bessere Welt zu arbeiten und sich dabei selbst zu verheizen, ergibt keinen Sinn. Wir müssen schon auch selbst die Welt sein, in der wir leben wollen. Und in dieser Welt sollte man auch mal sagen können: „Ich will nicht. Alles ist mir gerade zu viel.“

Eine existentielle Sorge, die wir bei netzpolitik.org momentan nicht haben und die für die Gesamtbelastung ausschlaggebend ist, sind Finanzsorgen. Alles ist noch einmal vielfach schwerer, wenn zu allem anderen noch die Angst kommt, sich das Leben nicht mehr leisten zu können. Dass alle bei uns zumindest im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses erst einmal finanziell sorgenfrei sein können, kann man nicht genug schätzen.

So überprüfe ich täglich den Spendenstand, vormittags und nachmittags. Meistens ist es das Erste, was ich morgens tue. Und ich konnte es kaum erwarten, den anderen mitzuteilen: „Gerade ging eine Spende in Höhe von 15.000 Euro ein \o/.“ Wir haben einfach nur große Augen gemacht und uns riesig gefreut, denn es nimmt enormen Druck raus, wenn ein unerwarteter Spendeneingang 25 Prozent unserer monatlichen Ausgaben deckt. Danke dafür! Und danke an alle anderen, die uns seit vielen Jahren ermöglichen!

Zu den Zahlen

Die größte Einzelspende einer Einzelperson in der Geschichte von netzpolitik.org ging also im Juni auf unser Konto ein. Größer war nur eine Unternehmensspende im März 2019.

Ich musste schon zweimal hinsehen, checkte sofort E-Mails, ob uns erneut wer versehentlich zu viel Geld zukommen ließ. Es gab keine E-Mail von dieser Person. Alles war in Ordnung. 15.000 Euro mehr machen sich in der monatlichen Bilanz sehr bemerkbar. Zusammen mit allen anderen Spenden ergibt das ein Volumen von 8 Prozent unseres Jahresspendenziels in einem einzigen Monat. Im Juni ist Halbzeit und wir haben schon 42 Prozent unseres Jahresziels erreicht. Das zu schreiben, ist immer noch etwas surreal, da wir mit vielem gerechnet haben, aber weniger damit, dass wir einen Rekordjuni und (Spoiler!) einen Rekordjuli erleben werden.

Eine solche Spendenentwicklung eröffnet Möglichkeiten, über die ich seit März kaum nachzudenken wagte. Es gibt noch vieles, was notwendig ist, um die Arbeit bei netzpolitik.org geschmeidiger zu gestalten. So stellen sich jeden Tag Aufgaben, für die wir keine Person haben und die von allen irgendwie nebenbei erledigt werden oder leider gar nicht. Neulich rief uns ein treuer Leser an und fragte, ob wir nicht aktiver auf Mastodon sein könnten. (Spoiler: Werden wir!) Unsere Kanäle aktiver zu bespielen und auch stärker zu interagieren, wünschen wir uns seit Jahren, aber dafür braucht es eben wen. Auch gibt es für einige Positionen keine wirkliche Vertretung im Krankheits- oder Urlaubsfall. Das zu ändern, wäre ein weiterer Schritt, um der Redaktion den Raum zu geben, sich auf das zu konzentrieren, was sie am besten kann. Unerwartete Spendenzugänge erlauben diese Gedanken wieder.

Einnahmen und Ausgaben im Juni 2020. CC-BY-SA 4.0

Die Sommermonate sind erfahrungsgemäß nicht so spendenstark. Doch auch ohne die 15.000-Euro-Spende verhält sich der Juni sehr stabil. Bei den Ausgaben achten wir natürlich darauf, sehr konstant und planbar zu sein. So hatten wir im Juni nur die üblichen Ausgaben für Personalkosten in Höhe von ca. 56.000 Euro, Miete für Berlin und Brüssel in Höhe von 3.097 Euro. Dazu kamen externe Dienstleistungen für die Buchhaltung in Höhe von 172 Euro sowie Infrastruktur in Höhe von 578 Euro. Oben drauf gab es noch eine neue Büroausstattung in Höhe von ca. 1.000 Euro, da die Stühle und Tische teilweise spürbar 15 Jahre alt sind.

Alles in allem war der Juni damit ein sehr guter Monat. Und auch wenn alles etwas anstrengender ist als sonst, motiviert uns die verlässliche Unterstützung ungemein. Vielen Dank dafür!

Spendenentwicklung bis Juni 2020 CC-BY-SA 4.0 Danke für Eure Unterstützung!

Wenn ihr uns unterstützen wollt, findet ihr hier alle Möglichkeiten. Am besten ist ein Dauerauftrag. Er ermöglicht uns, langfristig zu planen:

Inhaber: netzpolitik.org e. V.
IBAN: DE62430609671149278400
BIC: GENODEM1GLS
Zweck: Spende netzpolitik.org

Wir freuen uns auch über Spenden via Bitcoin oder Paypal.

Wir sind glücklich, die besten Unterstützerinnen und Unterstützer zu haben.

Unser Transparenzbericht aus dem Mai findet sich hier.

 

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Bundeszentrale für digitale Aufklärung: Digitale Bildungsinitiative der Bundesregierung lässt beinahe alle Fragen offen

Netzpolitik - Tue, 04/08/2020 - 09:37

Wer sich über digitale Themen informieren möchte, stößt auf der Webpräsenz der gerade aus der Taufe gehobenen Bundeszentrale für digitale Aufklärung im Augenblick noch fast ausschließlich auf Ankündigungen.

Unter dem Stichwort „Vision“ heißt es nach einigen Allgemeinplätzen zur Netznutzung zu den Zielen der neuen Bundeszentrale:

Die Bundeszentrale für Digitale Aufklärung wird Aufklärungskampagnen durchführen und mit niederschwelligen, kostenfreien Angeboten alle Bürgerinnen und Bürger umfassend über Innovationen und Technologiefolgenabschätzungen informieren, (sic) sowie spezielle Angebote zur Sensibilisierung und Aufklärung von Eltern, Lehrpersonal und Pädagogen über den Umgang mit Social Media, Datenschutz, Fake News, Hate Speech und Cybermobbing anbieten.

„In Kürze“ soll es hier zum Beispiel Informationen zur „Digitalen Identifizierung mit dem Online-Ausweis“ geben, einem Projekt der Bundesregierung, das trotz investierter Millionen und sogar einem gesetzlichen Zwang zur Aktivierung nun schon seit einem Jahrzehnt keine Interessenten findet. Den entsprechenden farbigen Kasten gibt es schon, nur digitale Aufklärung erwartet die Leser:innen dahinter noch nicht.

Der visionäre Absatz beginnt mit dem tausendfach kopierten Standardsatz, dass die Digitalisierung „alle Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger“ erfasse, und irrlichtert dann durch eine Ansammlung von Beispielen. Offenkundig ist dabei nur, dass die neue Bundeszentrale lediglich einen Bruchteil dieser Lebensbereiche anzusprechen plant. Es sind in der „Vision“ einige Bereiche der Digitalisierung beispielhaft versammelt, sprachlich und grammatikalisch hastig zusammengestoppelt und auch thematisch ohne große Linie: Da ist etwa von der „Filterfunktion“ von Algorithmen die Rede, die man verstehen müsse, alle sollen sich außerdem mit „Cyber-Sicherheit“ beschäftigen und auch gleich noch mit „datenbasierten Geschäftsmodellen“.

Zu sehen ist bislang aber immerhin eine Aufzeichnung einer Veranstaltung in Würzburg, bei der die Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär, den offiziellen Startschuss für die Bundeszentrale gab. Anlass war eine Podiumsdiskussion zum Thema Fake News und Desinformation an der Universität Würzburg. Expert:innen aus Journalismus, Wissenschaft und Politik diskutierten dort die Gefahren, die Desinformation für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellt. Staatsministerin Bär saß selbst nicht auf dem Podium, sprach aber einleitende Worte und stellte ihre neue Bundeszentrale für digitale Aufklärung vor.

Drei Projektphasen geplant

Die Veranstaltung war Teil der ersten Projektphase, wie das Büro der Staatsministerin mitteilt. Neben der Veranstaltungsreihe zu Themen wie Big Data, 5G oder Plattformökonomie sollen die Ressorts der Bundesregierung in dieser sogenannten Startschussphase Erklärvideos bereitstellen. Auf Anfrage erläutert Amelie Brambring, Referentin von Bär, den ungefähren Zeitplan: Über den Sommer sollen nach und nach die Videos zu verschiedenen Themen auf der Webseite erscheinen. Man darf gespannt sein, in welcher Weise dort welche Themen für welche Zielgruppen angesprochen werden.

Auch Informationen zur Veranstaltungsreihe sollen dann zu finden sein. Der nächste Termin liegt allerdings erst im Spätherbst: ein Expertengespräch zur digitalen Transformation von Schulen. Angesichts der Tatsache, dass die Schulen in den vergangenen Wochen und Monaten unter Pandemiebedingungen oft improvisierte digitale Lösungen finden mussten, ist zumindest das Thema in hohem Maße aktuell. Für Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern, die sich während der Corona-Zeit urplötzlich mit digitalem Unterricht und Home-Schooling konfrontiert sahen, kommt die Initiative reichlich spät.

Die Inhalte auf der Webseite sollen gleichzeitig die Grundlage für die zweite Phase sein: der Aufbau einer Wissensplattform. Bär bezeichnete diese Plattform in Würzburg als „digitale Volkshochschule“. Wie diese Plattform genau aussehen wird, scheint aber noch nicht klar zu sein. Im Zeitplan heißt es, dass die „Kick-Off-Veranstaltung“ im Ressortkreis erst für den Herbst geplant sei. Auch Projektphase drei würde erst hier besprochen. In der dritten Phase sollen „Digitalbotschafter ein Netzwerk aufbauen, vor allem im ländlichen Raum über digitale Themen aufklären und bei der Digitalisierung begleiten“. Ein Konzept hierfür sei aber erst in Planung.

Finanzierung der Bundeszentrale noch fraglich

Die Abstimmung mit den Bundesministerien ist für die Bundeszentrale insofern entscheidend, als dass kein eigenständiges Budget vorgesehen ist. Für die Veranstaltungsreihe stellt die Staatsministerin einen „niedrigen 5-stelligen Betrag“ aus ihren Haushaltsmitteln zur Verfügung. Die Erklärvideos sollen Ressorts und Behörden finanzieren. Wo das Geld für die Wissensplattform und die Digitalbotschafter:innen herkommen soll, ist noch nicht klar.

Da es keine Angaben gibt, wie viel Geld für die späteren Phasen aus welchen Quellen zur Verfügung stehen wird, finden sich nur schwammige Formulierungen, die die spärliche Öffentlichkeitsarbeit der Initiative bislang begleiten. Es bleibt fraglich, wie genau die Bundeszentrale „Ängsten und Vorbehalten […] vor neuen Technologien begegnen“ möchte, wie sie mit Podiumsdiskussionen und Videos „aufgeklärte“ und „mündige“ Bürger:innen schaffen will. An keiner Stelle benennen die Verantwortlichen die Zielgruppen der einzelnen Formate; es gibt auch keine vollständige Übersicht über die Themen, die die Bundeszentrale zu bearbeiten gedenkt. Ein didaktisches Konzept ist auch nirgends erkennbar, ebenso keine kompetenten Partner aus dem Bildungsbereich.

Bei den Mitarbeiter:innen kann Amelie Brambring bislang nur über die erste Projektphase Auskunft geben. Im Augenblick würde die Bundeszentrale aus Dorothee Bärs persönlichem Stab heraus entwickelt. Neben einer Projektverantwortlichen stünden ein Mitarbeiter für den Medienauftritt und zeitweise eine Pressesprecherin der Staatsministerin zur Verfügung. Über die weitere Personalplanung gibt es noch keine Informationen.

Offen für Kooperationen, Abgrenzung unklar

Nicht bekannt ist auch, wie sich die neue Bundeszentrale von bestehenden Bildungsangeboten abgrenzen will. Man sei offen für Kooperationen, sowohl – in der dritten Phase – für bestehende Angebote von Digitalbotschafter:innen als auch mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Im Gegensatz zur bpb werde man „eine offene kooperative Plattform […] bieten, bei der nicht nur politische, sondern zum Beispiel auch komplexe technische Inhalte vermittelt werden“, so Brambring. Da aber auch die bpb umfangreiche Informationen zum Themenbereich Digitalisierung auf ihrer Webseite zur Verfügung stellt, ist fraglich, wie diese Formulierung mit Leben gefüllt werden soll.

Man darf gespannt sein, mit welchem finanziellen Budget die Ministerien die Bundeszentrale für digitale Aufklärung ausstatten werden. Als die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Frühjahr einen Antrag für die Gründung einer vergleichbaren Institution [PDF] in den Bundestag einbrachten, veranschlagte sie ein Budget von zehn Millionen Euro jährlich. Die Bundeszentrale für politische Bildung verfügte 2018 über ein Budget von 54,7 Millionen Euro.

Der „niedrige 5-stellige Betrag“ für die erste Projektphase der Bär’schen Bundeszentrale wirkt angesichts dieser Zahlen eher symbolisch, wenn man es freundlich ausdrücken möchte. Wie die Initiative in den weiteren Phasen von den Ministerien finanziell und inhaltlich gefüllt wird, ist noch nicht abzusehen. Vielleicht wäre der Staatsministerin Bär etwas mehr Tiefstapeln anzuraten, denn Ankündigungen und eine dürre Webpräsenz ohne Konzept und finanzielle Mittel machen noch lange keine „Bundeszentrale für digitale Aufklärung“, die diesen Namen auch verdient und der gesellschaftlichen Brisanz des Themas gerecht wird.

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US-Behörde: Twitter drohen bis zu 250 Millionen Dollar Strafe, weil es Telefonnummern für Werbung nutzte

Netzpolitik - Tue, 04/08/2020 - 08:45

Twitter steht eine Millionenstrafe der US-Regulierungsbehörde Federal Trade Commission (FTC) ins Haus. Das kündigte das Unternehmen in einer Börsenmeldung an. Die Strafe könnte sich demnach zwischen 150 und 250 Millionen Dollar bewegen.

Zwischen 2013 und 2019 hatte Twitter Telefonnummern und E-Mailadressen für gezielte Werbung genutzt, obwohl es gegenüber seinen Nutzer:innen behauptet hatte, diese Daten nur für Sicherheitszwecke und 2-Faktor-Authentifizierung angefordert zu haben. Diese Praxis gestand das Unternehmen im Oktober 2019 ein und sagte, dass die werbliche Nutzung „unbeabsichtigt“ geschehen sei.

Die neue Strafe der FTC bezieht sich auf einen Vergleich zwischen der FTC und Twitter aus dem Jahre 2011. In diesem hieß es damals, dass Twitter für 20 Jahre Konsument:innen nicht irreführen dürfe und die Privatsphäre-Einstellungen der Nutzer:innen achten müsse:

Under the terms of the settlement, Twitter will be barred for 20 years from misleading consumers about the extent to which it protects the security, privacy, and confidentiality of nonpublic consumer information, including the measures it takes to prevent unauthorized access to nonpublic information and honor the privacy choices made by consumers.

Der Kurznachrichtendienst hat im zweiten Quartal 2020 einen Umsatz von 683 Millionen Dollar gemeldet.

Diskussion um Sicherheit der Plattform

Twitter war zuletzt Mitte Juli weltweit in den Schlagzeilen, als ein 17-jähriger Teenager als mutmaßlicher Hacker Zugriff auf prominente Accounts wie den des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und des Silicon-Valley-Empresario Elon Musk hatte. Der Hacker und zwei mutmaßliche Mittäter hatten den Hack genutzt, um für einen Bitcoin-Betrug zu werben, bei dem sie etwa 120.000 Dollar ergattern konnten. Mittlerweile sind alle drei Personen festgenommen worden.

Der Hack des sozialen Netzwerks, der zwar technisch nicht sonderlich anspruchsvoll war, aber Zugang zu Spitzenaccounts auf Twitter eröffnete, hatte vor allem Fragen der internationalen Sicherheit aufgeworfen, weil mit den prominenten Accounts deutlich gefährlichere Aktionen als die Bitcoin-Abzocke möglich gewesen wären.

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Telefonüberwachung 2019: In Berlin wurde seit zwölf Jahren kein Antrag auf Überwachung von Telefon oder Internet abgelehnt

Netzpolitik - Tue, 04/08/2020 - 06:00

Das Parlament des Landes Berlin lässt sich jährlich von der Regierung über die Telefonüberwachung der Polizei informieren. Vor kurzem hat der Senat den aktuellen Jahresbericht an das Abgeordnetenhaus übermittelt. Wir haben die Daten aus dem PDF befreit, visualisiert und mit den Zahlen der letzten Jahre verglichen.

Halbe Million Gespräche

Die Berliner Polizei hat im letzten Jahr über eine halbe Million Telefonate abgehört, das ist ziemlich genau jede Minute eins. Im Verlauf der Jahre ist ein Rückgang zu verzeichnen (Diagramm als PNG):

Diese Zahlen entsprechen in etwa der allgemeinen Entwicklung von Telefonie und SMS. Klassische Telekommunikation wird immer weniger genutzt, also kann auch weniger abgehört werden.

Ein Viertel wegen Drogen

In den meisten Fällen geht es um Drogen, über ein Viertel aller Anordnungen betraf das Betäubungsmittelgesetz. Das entspricht anderen Befugnissen und Statistiken, in ganz Deutschland überwacht die Polizei meist wegen Drogen. (Diagramm als PNG)

Danach folgen Eigentums- und Vermögensdelikte wie Betrug und Diebstahl. Neu ist das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt mit acht Abhörmaßnahmen.

Relativ konstante Personenanzahl

Die Anzahl der überwachten Personen bleibt über die Jahre relativ konstant, auch wenn diese Personen immer weniger telefonieren und immer weniger Telefonanschlüsse haben (Diagramm als PNG):

Unterschiedliche Regierungen, vergleichbare Überwachung

Auch die Anzahl der Ermittlungsverfahren mit Telekommunikationsüberwachung bleibt ungefähr gleich, gegenüber letztem Jahr ist die Zahl der Verfahren sogar leicht gestiegen (Diagramm als PNG):

Die rot-rot-grüne Landesregierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag „starken Datenschutz“ auch bei der Telekommunikationsüberwachung und eine „liberale Drogenpolitik“ angekündigt. In der Überwachungs-Statistik ist das nicht erkennbar, vielmehr bleiben die Zahlen auf dem hohen Niveau der rot-schwarzen Vorgängerregierung.

Kein Überwachungs-Antrag abgelehnt

Pikant ist, dass auch letztes Jahr kein einziger Antrag auf Telekommunikationsüberwachung von einem Richter oder einer Richterin abgelehnt wurde. Die letzte Ablehnung gab es 2007 – das Jahr, in dem das iPhone vorgestellt wurde.

Schon 2003 sagte der Rechtswissenschaftler Professor Gusy: „Wenn die Polizei einen Antrag anregt und die Staatsanwaltschaft diesen Antrag stellt, so bekommt sie ihn mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit durch.“ Ein Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht fand heraus, dass damals nur 0,4 % der Anträge abgelehnt wurden. Die Zahlen aus Berlin sind noch weit unter diesem Wert.

Kommunikationsart nicht mehr aufgeschlüsselt

Die bisherigen Jahresberichte hatten aufgeschlüsselt, welche Kommunikationsarten überwacht wurden (Diagramm als PNG):

Diese Einteilung ist im aktuellen Bericht nicht mehr vorhanden, weil der Bundestag die Rechtsgrundlage in der Strafprozessordnung geändert hat.

Kein Staatstrojaner in Berlin – noch

Dafür wird jetzt auch über den Staatstrojaner berichtet. Laut einem weiteren Bericht hat die Berliner Polizei letztes Jahr weder Quellen-TKÜ noch Online-Durchsuchung durchgeführt. Der Landesverfassungsschutz darf laut Gesetz den Staatstrojaner noch nicht nutzen.

Demnach wurde in Berlin noch kein Staatstrojaner eingesetzt, obwohl die Regierung zwischenzeitlich den berüchtigten Trojaner FinFisher gekauft hatte.

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Zweckentfremdung durch Polizei: Die Bundesregierung muss die Corona-Kontaktlisten schützen

Netzpolitik - Mon, 03/08/2020 - 17:07

Die Bundesregierung muss sich entscheiden, ob sie in der Bekämpfung der Corona-Pandemie effektive und nachvollziehbare Kontaktlisten aus Restaurants und Bars für die Gesundheitsämter haben will – oder solche, in denen jede Menge Quatsch- und Fantasiedaten stehen, weil die Menschen dem System nicht vertrauen können. Derzeit entscheidet sie sich für letzteres.

Seit Wochen ist klar, dass Länderpolizeien diese Vorratsdatenspeicherung aller Gastronomiebesucher:innen für Ermittlungen nutzen. Am Anfang hieß es, nur für schwere Verbrechen, mittlerweile ist klar, dass die Listen für alles mögliche abgefragt werden, wenn es denn der Strafverfolgung dienen könnte.

Das schafft Misstrauen bei den Barbesucher:innen und Ratlosigkeit für die Gastronomie, die das umsetzen muss, wenn sie keine Strafen riskieren will.

Nutzung per Begleitgesetz einschränken

Dabei trifft die Polizei ausnahmsweise mal keine Schuld. Sie muss sogar auf diese bequemen Listen zugreifen, die womöglich Ermittlungsansätze liefern können. Sie ist dazu verpflichtet und wird es weiter tun, solange es ihr nicht ausdrücklich verboten wird.

Bis dahin werden verantwortungs- und datenschutzbewusste Menschen falsche Angaben – aber eine funktionierende Mailadresse – in den Listen hinterlassen. Doch dieser kleine Hack kann nicht die Lösung für Versäumnisse der Bundesregierung sein.

Deswegen ist die große Koalition jetzt gefragt: Wenn Sie es ernst meint mit der Kontaktverfolgung, dann verabschiedet sie endlich ein Begleitgesetz zur Pandemie, das Bürger:innen schützt und die Pandemie bekämpft. Das wäre schon bei der Corona-Warn-App nötig gewesen. Aber die Kontaktlisten zeigen noch anschaulicher, dass eine Vorratsdatenspeicherung aller Restaurantgäste eben eine harte Auflage ist, die zeitlich beschränkt und ausschließlich zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt werden darf.

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DIN SPEC 3105: Offene DIN-Norm für Offene Hardware

Netzpolitik - Mon, 03/08/2020 - 11:17

Während Freie und Open-Source-Software inzwischen fest im Mainstream von Software-Entwicklung und software-basierten Angeboten angekommen ist, gilt das für offene oder Open-Source-Hardware noch nicht ganz. Was bei offener Software der Quellcode eines Computerprogramms, ist bei offener Hardware der Bauplan eines technischen Geräts: offen zugänglich, veränderbar und weiterverbreitbar.

Ein Indiz für den wachsenden Zuspruch zu Open-Source-Ideen auch im Hardware-Bereich ist ein kürzlich verabschiedeter Standard des Deutschen Instituts für Normung (DIN) mit dem sperrigen Titel „DIN SPEC 3105“. Bei den im Juni 2020 erschienenen Spezifikationen (bei Gitlab) handelt es sich um den ersten DIN-Standard unter einer Creative-Commons-Lizenz.

Wie es dazu gekommen ist und warum auch der Standard selbst offener als andere DIN-Standards ist, erklärt Open-Hardware-Aktivist Martin Häuer im Interview. Häuer ist Maschinenbauer und Schweißfachingenieur. Im Verein Open Source Ecology Germany e.V. koordiniert er die Aktivitäten rund um Open-Source-Hardware und war an der Entwicklung des DIN-Standards beteiligt.

netzpolitik.org: Mit DIN SPEC 3105 gibt es seit kurzem einen offiziellen Standard für Open-Source-Hardware. Kannst Du kurz erklären, was das ist?

Martin Häuer: Schnittiger und kompakter als die OSHWA-Definition gelingt es mir auch nicht. Dort ist Open-Source-Hardware definiert als „Hardware, deren Baupläne öffentlich zugänglich gemacht wurden, so dass alle sie studieren, verändern, weiterverbreiten und sie sowie darauf basierende Hardware herstellen und verkaufen können.“ Sprich: Technologie als Gemeingut. Jeder mit genügend Fachwissen kann und darf diese Maschinen verändern, weiterentwickeln, reparieren, recyclen. Die Ersatzteilbeschaffung sollte kaum schwieriger sein als bei Schrauben.

netzpolitik.org: Und warum braucht es dafür einen Standard?

Martin Häuer Alle Rechte vorbehalten Privat

Martin Häuer: Im Fall von Software ist die Sache einigermaßen einfach: Source Code unter freier/offener Lizenz veröffentlichen und fertig. Bei Hardware ist das komplizierter. Ich könnte eine Skizze meiner Maschine unter freier Lizenz teilen. Das wäre nett, würde anderen aber wenig nützen. Ein 3D-druckbarer Briefbeschwerer wird eine andere Dokumentation brauchen als eine Windturbine. Was also konkret unter freier/offener Lizenz veröffentlicht werden muss, damit andere damit arbeiten können, ist im Standard festgehalten.

netzpolitik.org: Warum ist das wichtig?

Martin Häuer: Der Begriff “Open-Source-Hardware” wird damit erstmals nach dem Stand der Technik greifbar. Das ist vor allem ein politisches Instrument und schafft auch eine gemeinsame Basis in der Community. Unvollständige und/oder falsch lizenzierte Dokumentation ist für andere oft nutzlos, insofern kommen die versprochenen Effekte offener und vernetzter Technologie erst bei normgerechter Dokumentation zum Tragen. Bei mechanischer Hardware, die sich Open Source nennt, ist das derzeit nur bei ca. 10 Prozent der Fall. Bei reiner Elektronik ist der Anteil aber deutlich höher. Da eine klare Begriffsdefinition fehlte, konnte also eine Menge „Open Washing“ betrieben werden – gewollt oder ungewollt.

netzpolitik.org: Kannst Du ein Beispiel nennen, wo das einen Unterschied macht?

Martin Häuer: In öffentlich geförderten Forschungsprojekten kann ab sofort die Dokumentation eines Prototypen „nach DIN SPEC 3105-1“ als klar definiertes Forschungsergebnis angeführt werden, was die Akquise von Geldern für diesen Zweck erleichtert. Bisher ging das nicht.

Der zweite Teil des Standards (DIN SPEC 3105-2) beschreibt außerdem einen offenen Prüfprozess dafür, ob die Norm in einem bestimmten Fall eingehalten wurde. Nach unserer Recherche ist es damit auch der erste offiziell standardisierte Prüfprozess nach Open-Source-Prinzipien, hier basierend auf Begutachtungsverfahren („Peer Review“) wie bei wissenschaftlichen Zeitschriften.

netzpolitik.org: Ist DIN SPEC 3105 damit der einzige Standard in dem Feld? Falls nicht, wie ist Euer Verhältnis zu den anderen Standards?

Martin Häuer: DIN SPEC 3105 ist der einzige offizielle Standard im Open-Source-Bereich. Freie/offene Standards gibt es im IT-Segment eine Menge (Internetprotokolle etc.). Im Hardware-Sektor sind uns nur die allgemein anerkannte und oben zitierte OSHWA-Definition (die aber keinen eigentlichen Standard setzt) und der Open-Know-How-Metadatenstandard bekannt. Mit beiden Initiativen haben wir eng kooperiert. Sollten sich noch weitere finden, hab ich den Telefonhörer schon im Anschlag. Ein großer Vorteil freier/offener Standards ist ja die Vernetzbarkeit.

netzpolitik.org: Gibt es eigentlich Beispiele für Open-Source-Hardware, die man kennt oder bekannte Firmen, die auf Open Source Hardware setzen?

Martin Häuer: Allein im englischen Sprachraum gibt es über 80 Plattformen, auf denen Open-Source-Hardware entwickelt und verbreitet wird. Arduino zum Beispiel ist als Mikrocontroller sehr verbreitet. Sparkfun Electronics ist eine Plattform, die sich speziell auf den Vertrieb quelloffener Elektronik ausgerichtet hat.

Der sich teils selbst replizierende 3D-Drucker RepRap von der University of Bath hat eine ganze Reihe von Derivaten angestoßen und dabei die 3D-Druck-Technologie massenhaft verfügbar und erschwinglich gemacht. Der Prusa i3 ist im Heimgebrauch einer der verbreitetsten 3D-Drucker.

Quelloffene Produkte sind vermutlich in der jeweiligen Domäne besonders bekannt. Durch Safecast konnte nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima innerhalb kürzester Zeit ein detaillierter, belastbarer Datensatz zur Strahlenbelastung in Japan und Teilen der restlichen Welt erhoben werden, der die von der Regierung bereitgestellten Daten bei weitem übertroffen hat. Open Source Imaging arbeitet (u.a. mit der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt) an einem Open-Source-MRT und stellt dabei interessante Fragen in Richtung offener Gesundheitsversorgung. OpenFlexure ist ein 3D-druckbares Mikroskop, welches Proben im Nanometerbereich bewegen kann. MNT Research wiederum vertreibt den ersten Laptop, der komplett Open Source ist und in modernen Arbeitsumgebungen eingesetzt werden kann. Die Liste ist also lang.

netzpolitik.org: Außerdem ist DIN SPEC 3105 der erste Standard, der selbst open source ist. Wie ist das zu verstehen? Standards müssen ja immer offen und frei nutzbar sein, das ist ja der Sinn und Zweck eines Standards.

Martin Häuer: Den letzten Satz hätte ich gern irgendwo prominent abgedruckt. Ja, wäre super, leider ist das fast nie der Fall. Normen werden für gewöhnlich in speziellen Gremien und in oft intransparenten Prozessen entwickelt – und anschließend über kostenpflichtige Lizenzen herausgegeben. Ich muss sie käuflich erwerben, so wie ich Fachliteratur erwerben muss. Unliebsames Feedback findet mitunter keine Beachtung. „DIN SPEC“ bezeichnet hingegen eine Kategorie von Standards, die kostenfrei vom DIN zur Verfügung gestellt werden. Jedoch sind auch diese nicht frei verwertbar. Ihr Inhalt darf nicht ohne weiteres in andere Werke fließen und/oder weiterverbreitet werden (zum Beispiel durch andere Standardisierungsinstitute). Entsprechend lang sind häufig die Feedback-Schleifen.

netzpolitik.org: Inwieweit ist das bei DIN SPEC 3105 jetzt anders?

Martin Häuer: Dieser Open-Source-Standard kann in jeder erdenklichen Weise frei verwertet werden, sofern der Lizenzgeber (DIN e.V.) genannt und das Derivat ebenfalls unter offener Lizenz freigegeben wird. Außerdem wurden dezentrale Arbeitsweisen und eine gewisse Maschinenlesbarkeit entwickelt.

Bei offener Standardisierung ist es also schwierig, sich öffentlichem Feedback zu entziehen. Zumal jeder die Änderungen selbst ‘einbauen’ könnte. Allerdings darf das Ergebnis dann nicht unter dem Label “DIN” weiterverbreitet werden.

netzpolitik.org: Wie hat man beim Deutschen Institut für Normung (DIN) auf Euer Ansinnen reagiert, auch den Standard und den Standardisierungsprozess selbst offen zu gestalten?

Martin Häuer: Überaus positiv. Es gab natürlich einige, meist rechtliche, Bedenken, die ausgeräumt werden mussten. Besonders unser DIN-seitiger Betreuer und der geschäftsführende Vorstand von DIN haben das Vorhaben unterstützt. Mittlerweile erfreut sich das Thema wachsender Beliebtheit im Haus – besonders mit Blick auf eine vernetzte Kreislaufwirtschaft, für die Open-Source-Hardware die Grundlage zu bilden scheint.

Bei den Arbeitsabläufen waren die Unterschiede zwischen den Welten noch deutlich spürbar. Auf proprietären Formaten basierende Form-Vorgaben, per Mail ausgetauschte Word-Dateien statt Dokumente mit automatischer PDF- und HTML-Generierung auf Gitlab. Auch die Referenzierung auf andere Standards gestaltete sich mitunter schwierig, da Open-Source-Prinzipien dort noch keine Erwähnung fanden und diese Standards daher nur bedingt für uns passten. Alles in allem aber reibungsfreier als gedacht.

netzpolitik.org: Was sind die nächsten Schritte?

Martin Häuer: Da gibt es einige, nicht alle davon müssen wir selbst gehen. Vielleicht am wichtigsten: die Norm anwenden und testen. Die offizielle Versionsnummer des Standards ist v0.10. In einer ersten Bewertungswelle von 20 bis 50 ausgewählten Projekten wollen wir testen, wie flüssig der Prüfprozess nach DIN SPEC 3105-2 läuft und wie praxistauglich die Kriterien aus DIN SPEC 3105-1 tatsächlich sind. Für diese frühe Phase suchen wir auch noch Gutachter aus allen Technologiebereichen. Bei Interesse einfach per E-Mail melden, dann klären wir die Details. Selbes gilt für interessierte, gut dokumentierte Open-Source-Hardware-Projekte.

Daneben arbeiten wir bereits am Nachfolge-Standard. Zusammen mit Open Know-how und dem EU-geförderten Projekt OPEN!NEXT entwerfen wir einen erweiterten Metadatenstandard, der dann in die DIN SPEC 3105 mit aufgenommen werden soll. Crawler durchsuchen das Internet nach standardisierten Metadaten für Maschinen und sammeln diese in einer offenen Graphendatenbank. So entsteht ein riesiger Baukasten von Open-Source-Hardware-Modulen. Ein echtes Internet der Dinge.

netzpolitik.org: Vielen Dank für diese Einblicke!

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Bitcoin-Scam: 17-jähriger Verdächtiger wegen Twitter-Hack festgenommen

Netzpolitik - Sat, 01/08/2020 - 11:06

Die Polizei hat in Florida einen 17-jährigen Teenager als mutmaßlichen „Mastermind“ des Twitter-Hacks festgenommen. Der Hacker hatte Zugriff auf prominente Accounts wie den des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und des Silicon-Valley-Empresario Elon Musk. Er hatte diese genutzt, um für einen Bitcoin-Betrug zu werben, bei dem er etwa 120.000 Dollar ergattern konnte. Der Teenager soll von zwei anderen Personen unterstützt worden sein.

Die Hacker hatten Zugriff auf 130 Accounts, hatten von 45 Accounts getwittert und Zugang zu den Privatnachrichten von 36. Sie haben durch Social Engineering einen Mitarbeiter von Twitter dazu gebracht, ihnen Zugang zum „Admin-Panel“ zu geben, über das man auf Accounts zugreifen kann.

Über IP-Adressen und Bitcoin-konten gefunden

Laut Informationen der New York Times hatten die Strafverfolger schon früher ein Auge auf den Teenager geworfen: Im April hatte der Secret Service 700.000 US-Dollar in Bitcoin bei ihm beschlagnahmt. Nun werden dem Jungen 30 Straftaten vorgeworfen, er soll nach Erwachsenenstrafrecht behandelt werden.

Wired zeichnet anhand der Gerichtsdokumente nach, warum die Ermittler den Hackern so schnell auf die Spur kamen: über nicht verschleierte Bitcoin-Konten und IP-Adressen sowie eine Aussage eines nicht genannten Minderjährigen.

Die Polizei ermittelt gegen zwei andere Männer, die laut Wired auch festgenommen wurden: einen 19-jährigen in Großbritannien und einen 22-jährigen US-Bürger. John Bennett, Special Agent des FBI, zeigte sich gegenüber der NYT zufrieden. Während die Ermittlungen wegen Hacks manchmal Jahre dauerten, habe man den Täter nach nur wenigen Wochen festgenommen. Twitter dankte nach der Festnahme den Strafverfolgern für ihre Arbeit und kündigte an, weiter mit diesen zusammenzuarbeiten und Transparenz über den Vorfall herzustellen.

Der Hack des sozialen Netzwerks, der zwar technisch nicht sonderlich anspruchsvoll war, aber Zugang zu Spitzenaccounts auf Twitter eröffnete, hatte vor allem Fragen der internationalen Sicherheit aufgeworfen, weil mit den prominenten Accounts deutlich gefährlichere Aktionen als die Bitcoin-Abzocke möglich gewesen wären.

Sicherheitspolitische Bedeutung des Hacks

Letztlich konnte man von Glück reden, dass die Hacker nur einen banalen Bitcoin-Betrug vornahmen. Die Angreifer hätten die Accounts von offiziellen Repräsentanten, Außenminister:innen, Botschaften oder Nachrichtenorganisationen für koordinierte und orchestrierte Tweets nutzen können – um damit zum Beispiel zwischenstaatliche Konflikte anzufeuern.

Wie aufgrund der schnellen und manchmal missverständlichen Kommunikation auf Twitter internationale Konflikte eskalieren könnten, hatte im Juli das King’s College London in der Studie „Escalation by Tweet“ (PDF) beschrieben. Denkbar sind mit einem so umfangreichen Zugriff auf Unternehmensaccounts aber auch größere Börsenbewegungen und Spekulationsgewinne mit Insiderwissen.

Twitters Reaktion auf die Account-Übernahmen war in diesem Fall zwar effektiv, aber auch gefährlich: Für mehrere Stunden ließ Twitter alle verifizierten Accounts mit dem blauen Haken nicht mehr twittern. Das betraf auch viele offizielle Accounts von Polizeien und staatlichen Stellen, die sich in der schnellen Kommunikation auf den privaten Kurznachrichtendienst verlassen und nicht mehr twittern konnten.

Die Tweetsperre für verifizierte Accounts führte unter anderem dazu, dass beispielsweise Medien sich neue Accounts erstellten, die sie mittels Retweets ihrer verifizierten Accounts zur Verbreitung von Nachrichten nutzten.

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Protest „Chile despertò“: Der Aufstand offline und online gegen das neoliberale Modell

Netzpolitik - Sat, 01/08/2020 - 08:20

Sabine Mehlem ist Juristin und seit vielen Jahren aktiv in verschiedenen sozialen Bewegungen. In den letzten fünf Jahren war sie für viele Aufenthalte in Chile und in anderen lateinamerikanischen Ländern: Sie hat sich im November 2019 und im Frühjahr 2020 in der Zona Zero in Santiago aufgehalten und dabei reichlich Tränengas abbekommen. Sie ist Mitglied im Chaos Computer Club Bremen und wird am 1. September dort einen Online-Vortrag über den chilenischen Protest halten.

Der Neoliberalismus bringt uns um: Chile despertò

Am 18. Oktober 2019 sprang eine Gruppe von Jugendlichen unter dem Applaus der Zuschauer über die Absperrungen in der Metrostation Santiago de Chile. Grund des Protestes war eine Fahrpreiserhöhung von 30 Pesos (0,033 Euro). Der Protest begann mit dem Slogan „No son 30 pesos son 30 años“ („Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre.“). Er bezieht sich auf die extreme Ungleichheit der Bevölkerung in Chile: Einer sehr reichen und sehr kleinen Elite steht seit Jahren eine schwer verschuldete Mittelschicht gegenüber, die unter einem miserablen öffentlichen Gesundheitssystem, einem schlechten öffentlichen Bildungssystem und dem privatisierten Rentenfonds AFP leidet.

Der Protest weitete sich mit dem Ruf „Chile despertò“ („Chile ist aufgewacht“) schnell im ganzen Land aus, zum Staunen seines rechtsgerichteten Präsidenten Sebastian Piñera – Spitzname in der Bevölkerung: Piranha. Dieser hatte noch im Oktober hochmütig erklärt, Chile sei eine Oase des Friedens im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern. Mit dieser Auffassung stand er nicht allein da: Reiseführer empfahlen Chile gern als sicheres Land, das wirtschaftlich stabil und eine Demokratie sei. Übersehen wurde dabei, dass der erwirtschaftete Reichtum des extrem neoliberalen Modells – wirklich alles ist privatisiert, sogar das Wasser – nur einer sehr kleinen Elite zugute kommt.

Straßenprotest in Chile: Vereintes Volk, wir werden gewinnen. Alle Rechte vorbehalten Sabine Mehlem

Dieses neoliberale Modell wurde vom Diktator Augusto Pinochet, der am 11. September 1973 mit tatkräftiger Unterstützung der US-amerikanischen Nixon-Administration gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende putschte, installiert und in der Verfassung verankert – mit Quoten, die eine Verfassungsänderung so gut wie unmöglich machen. Zwar endete die Diktatur 1990 mit Hilfe eines Plebiszits, aber die neoliberale Verfassung blieb bis heute bestehen. Damit wird alles zum Geschäft gemacht, und soziale Rechte werden für Geld verkauft.

In der Praxis bedeutet dies, dass Bildung teuer ist: Wer seine Kinder nicht auf die schlechten öffentlichen Schulen schicken will, muss teure private Schulen bezahlen. Gleiches gilt für das Gesundheitssystem: Zwar gibt es ein öffentliches Gesundheitssystem, aber die Wartelisten für dringend notwendige Operationen sind derart lang, dass Patienten nicht selten vorher versterben. Auch das Rentensystem ist privatisiert. Mit Ausnahmen für die Polizei und das Militär, die ein eigenes, besseres Rentensystem haben, müssen alle Chilenen zwangsweise Beiträge in die AFP einzahlen. Das ist ein privatisierter Rentenfonds, mit dem Unternehmen an Börsen spekulieren. Die Menschen stehen am Ende eines Arbeitslebens mit lächerlich geringen Pensionen da, umgerechnet zwischen 180 und 210 Euro, bei ähnlich hohen Preisen wie in Deutschland.

Die Protestwelle, die sich seit dem 18. Oktober 2019 bis Mitte März dieses Jahres in nahezu täglichen Demonstrationen niederschlug, kam also nicht überraschend, wenn man die Verhältnisse kennt, unter denen das Volk ächzt. Hinzu kommen die Grausamkeiten der Militärdiktatur, die nicht vergessen sind.

„Wir sind im Krieg.“

Die Reaktion des Präsidenten Piñera, für den ist nicht klar ist, ob er seine Amtszeit noch zu Ende bringen kann, war die Verhängung des Ausnahmezustands mit Hilfe des Militärs: „Estamos en guerra.“ („Wir sind im Krieg.“)

Straßenkunst: „Sie haben uns so viel genommen, dass sie uns die Angst genommen haben.“

Doch die Generation der Jugendlichen ging mit dem Slogan „No tenemos miedo“ („Wir haben keine Angst“) weiterhin auf die Straßen. Und es wurden immer mehr: Am 25. Oktober kam es zu einer Demonstration, bei der knapp zwei Millionen Menschen in Santiago protestierten. Längst war der Protest von den mutigen Jugendlichen auch auf die von der Pinochet-Diktatur traumatisierten Älteren übergegangen.

Piñera bot ein paar kleine Reformen an, aber das änderte an den Demonstrationen und den Forderungen nach einer neuer Verfassung nichts. Seitdem ist die Taktik des Präsidenten – an der sich auch in Pandemiezeiten nichts verbessert hat –, die militarisierte Polizei der Carabiñeros auf die Straßen zu schicken.

Straßenkunst: Zerschossene Augen. Alle Rechte vorbehalten Sabine Mehlem

Diese „pacos“ („Bullen“) genannten Polizisten schossen bevorzugt auf die Augen. Mehr als vierhundert Menschen haben so ein Auge und in einigen Fällen auch beide Augen verloren. Außerdem wurden massenhaft Wasserwerfer eingesetzt, deren Wasser mit Zusätzen wie Ätznatron und anderen Chemikalien vermischt war, was schwere Verbrennungen auslösen kann. Mehr als vierzig Menschen starben durch die Gewalt der Polizei.

Die Polizeitaktik war dabei offenbar, Demonstrationen zu verhindern. Dies führte bei den Demonstranten dazu, dass sich eine Art Kampfgruppe formierte, die „Primera Linea“. Diese bestand aus Männern und auch Frauen, die in der ersten Front gegen die Carabiñeros kämpften und damit ermöglichten, dass es überhaupt friedliche Demonstrationen geben konnte. Sie hielten praktisch die Carabiñeros davon ab, große friedliche Demonstration aufzulösen. Auf der Plaza Italia, von den Demonstranten in „Plaza de la Dignidad“ („Platz der Würde“) umgetauft, herrschte bei den Demonstrationen Partystimmung mit Musik und Karneval, während ab und zu Tränengasschwaden herüberzogen und man den Lärm der Tränengasgranaten hörte.

Facebook, Twitter, Instagram, aber nur wenige Medienberichte

Als Reaktion auf die anhaltende Gewalt der Regierung organisierte sich die Bewegung immer stärker in den sozialen Medien: auf Facebook, auf Twitter und auf Instagram. Auf Twitter gab und gibt es gutbesuchte Hashtags wie #ChileDespertó, #ChileEnMarcha oder #PrimeraLinea, mit denen alle Neuigkeiten ausgetauscht werden. In vielen Medien kam zwar die Bewegung entweder gar nicht vor oder es wurde nur tendenziös über sie berichtet, doch die Mauern von Santiago wurden mit Graffiti und vielfältiger, bunter Straßenkunst bedeckt. Sie erzählten die Geschichte der Bewegung und ihre Forderungen nach mehr Gerechtigkeit.

Protest am Plaza de la Dignidad. Auf der Fahne ist Víctor Jara zu sehen, ein bekannter Sänger und Unterstützer von Allende. Alle Rechte vorbehalten Sabine Mehlem

Die Bewegung hat keine prominenten Führer. Die sicherlich am häufigsten vorkommende Ikone – neben Allende und dem 1973 von den Militärs im Stadion von Santiago ermordeten Sänger Víctor Jara – ist ausgerechnet ein „perro callejero“, ein Straßenhund: der „Negro Matapacos“ („schwarzer Bullenkiller“). Dieser Hund wurde in der Schülerbewegung 2011 zu einer Ikone, weil er die Schüler stets auf ihren Demonstrationen begleitete und und in der vordersten Linie mitkämpfte.

Eine der „Waffen“ der Demonstranten ist das Handy. Mit den Mobiltelefonen wurden und werden die zahlreichen Übergriffe der Polizei gefilmt und danach sofort in das Netz gestellt. Es gibt beispielsweise ein Video eines solchen Übergriffs, in dem zwei Frauen in Santiago im Auto sitzen und von den Carabiñeros gestoppt werden, weil sie einen polizeikritischen Song hörten („Paco Vampiro“ von Alex Anwandter). Während die Fahrerin mit einem der Polizisten diskutiert, filmt die Beifahrerin. Auch als der zweite Polizist seine Pistole zieht und auf sie zielt, schneidet sie das Geschehen weiter mit und ruft immer wieder aufgeregt, dass sie filmt („Estoy grabando!“) und dieser Film in die sozialen Netzwerke komme.

Mit den Handys werden nicht nur die zahlreichen Übergriffe der Carabiñeros gefilmt, sondern auch täglich Nachrichten verbreitet oder Planungen für spätere Aktionen bekanntgegeben. In der Zeit des Corona-Lockdowns, in der in Santiago eine mehrmonatige Ausgangssperre herrschte, wurden über die sozialen Netzwerke ständig Informationen ausgetauscht oder sich gegenseitig Mut gemacht für die Aktionen nach der Corona-Zeit.

Hier wird das Handy zur Dokumentation des Missbrauches, zur Motivation der Mitstreiter und zur Gegenwehr genutzt. Ohne die digitale Technik wäre die ganze Bewegung in dieser Form nicht möglich. Im Unterschied zu der vergangenen Militärdiktatur, die stumpf Menschenrechtsverletzungen von sich weisen konnte, ist so etwas durch die Nutzung der digitalen Technik heute nicht mehr möglich. Aber auch Kunst, Bilder, Fotos, alte und neue Protestsongs werden durch die sozialen Medien geteilt. Auch in der Corona-Krise, in der Chile dank seiner unfähigen Regierung eines der am schwersten betroffenen Länder in Südamerika ist, wird weiterhin der Protest geplant und sich über digitale Kanäle Mut zugesprochen.

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NPP205 Off The Record: Ausflug auf den Recherche-Friedhof

Netzpolitik - Sat, 01/08/2020 - 06:58


https://netzpolitik.org/wp-upload/2020/07/NPP205-OffTheRecord-Scho?ner-scheitern.mp3

Normalerweise sprechen wir in unserem Hintergrund-Podcast Off The Record über herausragende Artikel der letzten Wochen und erzählen die Geschichten hinter den Geschichten. Nicht so in dieser Ausgabe. Denn dieses Mal geht es um Recherchen, die gar nicht erst zur Geschichte geworden sind. Denn auch wenn man es von außen nicht sieht: Das passiert ständig.

Wir wollen mit der Ausgabe einen besseren Einblick geben, wie unsere Arbeit eigentlich funktioniert. Also reden wir über einen dubiosen Cyber-Verein, der niemanden interessiert. Wir sprechen über einen neurechten Möchtegern-Hugenberg, der nichts bewirkt. Und erzählen von fehlenden Dokumenten und blutigen Datenlecks, die gar keine sind.

Am Ende steht die Erkenntnis: Es ist kein Problem, wenn Recherchen scheitern und wir Ideen beerdigen müssen. Im Gegenteil: Es gehört zum journalistischen Alltag, und oft genug können wir daraus Dinge lernen.

Mit in dieser Folge: Anna Biselli, Daniel Laufer und Ingo Dachwitz.

Shownotes:

Der Podcast „Off The Record“ erscheint immer am ersten Samstag des Monats und gibt Einblicke in den Maschinenraum unserer Redaktion. Welche aktuellen Themen haben wir begleitet, wie lief die Recherche ab und warum schauen wir auf eben diese Geschichten? „Off The Record“ ist Teil des Netzpolitik-Podcasts NPP und ist auf dem gleichen Feed zu abonnieren. Ihr könnt diese Folge des Podcasts auch im OGG-Format herunterladen oder bei Spotify abonnieren.

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Bayern: Polizei nutzt Corona-Kontaktlisten für Drogenermittlungen

Netzpolitik - Fri, 31/07/2020 - 19:44

Die bayerische Polizei nutzt Daten von Menschen, die Restaurants besuchen, auch für Ermittlungen im Bereich von Drogenkriminalität und bei Eigentumsdelikten, außerdem zur Gefahrenabwehr, wie Recherchen von netzpolitik.org zeigen. Dabei begründet das Staatsinnenministerium das Vorgehen in der Öffentlichkeit vor allem mit Straftaten gegen das Leben. Die Argumentation folgt einem Muster, das als Rechtfertigung für Überwachungsmaßnahmen bekannt ist. Ob sie zutrifft, lässt sich schwer sagen, da die Behörde keine genauen Zahlen nennt.

In mehreren Bundesländern müssen sich Besucher:innen von Gaststätten neuerdings in Listen eintragen. Eigentlich geschieht dies, damit Gesundheitsämter bei Fällen von Covid-19 weitere Betroffene benachrichtigen können. Eine womöglich wirksame Maßnahme, die nur funktioniert, wenn die Angaben der Besucher:innen der Wahrheit entsprechen. Die Daten haben längst auch bei Strafverfolgungsbehörden Begehrlichkeiten geweckt. Sie berufen sich dabei weitgehend auf die Strafprozessordnung.

Neben dem Namen werden üblicherweise auch Anschrift, Telefonnummer und E-Mail-Adresse erfasst. Wie der Tagesspiegel auflistet, hat die Polizei in Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Hamburg im Rahmen von Ermittlungen auf entsprechende Listen zugegriffen. Auch in Bayern ist dies geschehen.

Ein Vertrauensbruch der bayerischen Staatsregierung

Katharina Schulze, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Landtag, wirft der Landesregierung vor, einen Vertrauensbruch begangen zu haben. „Die Staatsregierung hatte das anders kommuniziert, die Daten sollten lediglich den Gesundheitsbehörden zur Verfolgung eines möglichen Infektionsgeschehens zugänglich sein“, sagte die Oppositionsführerin gegenüber netzpolitik.org.

Staatsinnenminister Joachim Herrmann verteidigte die Praxis im Mittagsmagazin der ARD. „Es handelt sich um schwere Straftaten, bei denen es zur Ermittlung des Täters oder zur Aufklärung einer Straftat sinnvoll und richtig ist“, so der CSU-Politiker. Um die Bedeutung zu untermauern, führte er ein Beispiel an, bei dem die Polizei auf Listen zugegriffen habe – ein Tötungsdelikt in einem Café in Ingolstadt.

Bei der Tat im Juni, auf die sich Herrmann mutmaßlich bezieht, soll ein Mann einen anderen im Streit um Geld und ein Auto erschossen haben, wie der Donaukurier berichtete. Es ist ein äußerst brutaler Fall, von dem der Staatsinnenminister erzählt. Unerwähnt lässt er dabei, dass sich der Verdächtige anschließend widerstandslos festnehmen ließ. Im Fernsehinterview sagt er lediglich, es sei darum gegangen, Zeugen aufzuspüren.

Auch gegenüber der Funke-Mediengruppe rechtfertigte Herrmann den Zugriff auf Corona-Kontaktlisten mit Straftaten, bei denen es um Leben und Tod geht, wie die Zeitungen berichteten. „Gerade Kapitalverbrechen müssen sorgfältig ausermittelt werden, damit der Täter seine gerechte Strafe erhält.“

Drogendelikt statt Gewaltverbrechen

Bayerns Innenministerium sind nach eigenen Angaben neun Fälle bekannt, bei der die „bayerische Polizei entsprechende Daten aus sogenannten Gästelisten zu präventiven beziehungsweise strafverfolgenden Zwecken erhoben und genutzt hat“. Demnach könnte sich die Polizei bereits auf Verdacht einer bevorstehenden Straftat Zugang zu Corona-Kontaktlisten verschaffen.

Wir haben die Behörde gebeten, die Straftatbestände aufzulisten, mit denen die Polizei Zugriffe auf die Daten begründet hatte. Zahlen, die Klarheit verschaffen könnten, wie groß der Anteil von Gewaltverbrechen daran wirklich ist.

Ein Sprecher teilte uns mit, die Verfahren reichten „von gravierenden Eigentumsdelikten bis hin zu Tötungsdelikten“. Genaue Zahlen könne er jedoch nicht nennen: Die Polizeidienststellen hätten weder eine Meldeverpflichtung gegenüber dem Ministerium, noch könne dieses „detaillierte Auskünfte in laufenden Ermittlungsverfahren“ erteilen. Auskünfte, nach denen wir gar nicht gefragt hatten – sondern lediglich nach Paragraphen des Strafgesetzbuchs.

Das bayerische Landeskriminalamt teilte auf Anfrage mit, es habe nur ein einziges Mal auf Corona-Kontaktlisten zugegriffen. Der Fall hat offenbar nichts mit dem zu tun, was Herrmann „Kapitalverbrechen“ nannte. Es habe sich um ein „Rauschgiftermittlungsverfahren“ gehandelt, schrieb ein Sprecher uns in einer E-Mail. Nähere Angaben zu dem Fall machte er auch auf Nachfrage nicht.

Die rechtliche Definition schwerer Straftaten lässt Spielraum zu. Statistiken zu Überwachungsmaßnahmen haben in der Vergangenheit gezeigt, dass Anordnungen häufig wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz erfolgen, anstatt wegen Verbrechen, bei denen Menschen konkret verletzt oder getötet werden. Mit derartigen Taten werden die Grundrechtseingriffe jedoch in der Regel politisch begründet, wie es nun auch Joachim Herrmann getan hat, um die Zugriffe der Polizei auf Corona-Kontaktlisten zu rechtfertigen.

„Brauchen bundeseinheitliche Regelung“

Es ist nicht das erste Mal, dass Daten – die wegen der Pandemie erfasst wurden – bei den Strafverfolgungsbehörden landen. Im März und April wurde bekannt, dass in fünf Bundesländern Listen mit den Namen von Infizierten oder Menschen in Quarantäne an die Polizei übermittelt worden waren. Teilweise gelang es Datenschützer:innen, die Weitergabe zu stoppen.

Eine Erfahrung, aus der Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) womöglich gelernt hat. Er sprach sich ausdrücklich gegen eine strafrechtliche Nutzung von Corona-Kontaktlisten aus. „Eine Verwendung etwa von der Polizei, um Straftaten zu verfolgen, ist unzulässig“, sagte er der Funke-Mediengruppe.

Katharina Schulze fordert nun eine Lösung, die nicht nur Bayern betrifft. „Um das Spannungsverhältnis aufzulösen brauchen wir jetzt eine bundeseinheitliche Regelung über ein Begleitgesetz. Damit wird Klarheit für Wirtsleute und Gäste geschaffen, wer wann auf die Daten zugreifen darf.“ Eine gesetzliche Grundlage, so die Grünen-Politikerin, stärke auch das Vertrauen und die Akzeptanz für die Corona-Verordnungen.

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Wochenrückblick KW31: Digitale Konzerne im Visier der Justiz

Netzpolitik - Fri, 31/07/2020 - 17:30

Eigentlich hatten wir uns schon mit dem Sommerloch abgefunden, aber dann passierte in dieser Woche doch gar nicht so wenig. Auf EU-Ebene und in den USA gerieten Politiker:innen mit Facebook aneinander. Überall auf der Welt wurde durch Gerichtsurteile und Verhaftungen die Meinungs- und Pressefreiheit erneut eingeschränkt. Und in einigen Themen ist die Politik so tatenlos, dass es uns langsam gruselt: unter anderem beim Thema Gesichtserkennung und missbräuchlichen Datenbankabfragen durch die Polizei.

Aber es gab auch positive Nachrichten, zum Beispiel schützen uns Gesichtsmasken vor, ja genau, Gesichtserkennungstechnologie! Und das freie PinePhone weckt Hoffnungen auf sichere Kommunikation via Smartphone. Hier kommt unser netzpolitischer Wochenrückblick.

Die Politik kämpft gegen Datengier und Monopole

Kann die chinesische Regierung nun auf Daten von TikTok-Nutzer:innen zugreifen oder nicht? Wegen dieser Frage prasselt auf die Videoplattform Kritik von vielen Seiten herab, Indien hat die App bereits aus seinen Stores geschmissen, die USA überlegen noch. Eine einfache Antwort gibt es nicht, aber klar ist: TikTok gehört zum chinesischen Konzern ByteDance, der im Zweifel der Parteilinie folgt. Was mit Nutzer:innendaten passiert, die TikTok an chinesische Partnerunternehmen weitergibt – unabhängig davon, wo seine Server stehen – darauf bleibt das Unternehmen bis heute eine eindeutige Antwort schuldig.

Während die USA noch überlegen, wie sie nun mit TikTok umgehen sollen, bestellte der US-Kongress seinerseits in dieser Woche die Chefs der großen Vier – Google, Apple, Facebook und Amazon – zur Videokonferenz. Seit einem Jahr wälzen die Abgeordneten mehr als eine Million Dokumente, um zu prüfen, wie sich die Monopolstellung der Tech-Konzerne begrenzen lässt. Die Republikaner:innen nutzten den Termin aber auch, um sich zu beschweren: Das Silicon-Valley unterdrücke konservative Stimmen im Netz. Die vier Super-CEOs nickten brav.

Auch der EU ist Facebooks Monopolstellung ein Dorn im Auge. Die Wettbewerbsaufsicht ermittelt gegen den Konzern und hat im Zuge ihrer Ermittlungen Hunderttausende interne Dokumente angefordert. Womit sie auf Widerwillen stößt, obwohl das soziale Netzwerk doch selbst dafür bekannt ist, massenhaft Daten zu sammeln. Facebook hat also gegen die EU-Kommission geklagt, gibt sich öffentlich aber gleichzeitig so, als wolle es die Ermittlungen keinesfalls behindern.

EU: Datensammelei und Abschreckungsmanöver

Ihrerseits Klage erhoben hat die EU-Kommission am Europäischen Gerichtshof gegen die spanische Regierung – weil diese offenbar nicht die Richtlinie zur Verwendung von Fluggastdatensätzen umgesetzt hat. Umfangreiche Datensätze, die die Fluggesellschaften bei Buchung und Boarding von Passagieren erhält, sollen an zentralen Stellen gesammelt werden – was bei der Verfolgung von terroristischen Straftaten und schwerer Kriminalität helfen soll. Die Kommission plant sogar eine Ausweitung der Datenerhebung, obwohl dem EuGH mehrere Klagen gegen die massenhafte Datenspeicherung vorliegen.

Ausweiten will die EU-Kommission außerdem die Möglichkeiten der Polizeiagentur Europol, verschlüsselte Kommunikation auszulesen. Künftig soll die dafür eingerichtete „Entschlüsselungsplattform“ Supercomputer der Europäischen Union nutzen. Nach EU-Angaben soll durch das Auslesen verschlüsselter Nachrichten unter anderem der sexuelle Missbrauch von Kindern bekämpft werden. Eine Studie soll es zudem Internetanbietern erleichtern, Kommunikation auszulesen und kriminelle Inhalte zu melden.

Gegen Cyberangriffe von außen wehrt sich die Europäische Union nun erstmals mit Sanktionen gegen Personen und Einrichtungen aus Russland, China und Nordkorea. Diese werden beschuldigt, an dem versuchten Cyberangriff auf die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) sowie an den als „WannaCry“, „NotPetya“ und „Operation Cloud Hopper“ bekannten Angriffen beteiligt gewesen zu sein. Mit den Sanktionen will die EU „böswillige Cyberattacken“, die sich gegen ihre Einrichtungen oder Mitgliedsstaaten richten, verhindern und Angreifer:innen abschrecken.

Die Polizei und unsere Privatsphäre

Sanktionen müssen Polizist:innen, die unbefugt persönliche Daten abfragen, in Deutschland wohl allzu selten fürchten. Zuletzt häuften sich die Berichte über Drohschreiben an Politiker:innen der Linken, die mit NSU 2.0 unterschrieben waren. Die darin enthaltenen persönlichen Daten waren von hessischen Polizeicomputern abgefragt worden. Dass das keine Einzelfälle sind, zeigte sich spätestens Anfang der Woche, als herauskam: Wegen unbefugter Datenbankzugriffe wurde seit 2018 in mehr als 400 Fällen gegen Polizeibedienstete ermittelt.

Die Anonymität von Polizist:innen möchten Polizeigewerkschaften aber in jedem Fall wahren, und auch um die Sicherheit der Bürger:innen macht sich die Politik nach der Recherche von netzpolitik.org zur Technologie der Gesichtserkennung beim polnischen Unternehmen PimEyes Sorgen. Der Druck auf die Bundesregierung und die EU für eine gesetzliche Regulierung oder gar ein Verbot dieser massenhaften Ansammlung biometrischer Daten steigt. Axel Voss, der im Sonderausschuss für künstliche Intelligenz des EU-Parlaments viel bewegen könnte, lässt bislang allerdings offen, was er gegen den drohenden Datenmissbrauch durch Unternehmen wie PimEyes unternehmen wird.

Gegen Gesichtserkennung hat sich die Stadt San Francisco schon im vergangenen Jahr abgesichert, indem sie eine international beachtete Verordnung gegen Überwachungstechnologie verabschiedete. Diese erschwert es städtischen Behörden, solche Technologien anzuschaffen. Die dortige Polizei hielt es aber offenbar nicht für nötig, sich an diese Verordnung zu halten. Sie beschaffte sich Zugang zu privaten Kameras im städtischen Raum und überwachte so die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt.

Presse- und Meinungsfreiheit weltweit bedroht

Im Zuge dieser Proteste kam es in Seattle zu einem problematischen Gerichtsurteil zugunsten der Polizei: Sie hatte mehrere Medien aufgefordert, Fotos und Videomaterial zur Strafverfolgung freizugeben – und bekam in Teilen Recht. Dass Medienhäuser Material zur Verfolgung von Straftaten herausgeben müssen, könnte dafür sorgen, dass sie in Zukunft nicht mehr auf Demonstrationen willkommen sind – eine starke Einschränkung der Pressefreiheit.

Meinungsfreiheit bei Protesten und im Internet ist ein schützenswertes Menschenrecht. Die ägyptische Regierung interessiert das allerdings kaum. Gleich sechs junge Frauen verhaftete ein Gericht in Kairo in dieser Woche zu mehrjährigen Gefängnis- und hohen Geldstrafen. Ihr Vergehen: Sie veröffentlichten Videos auf TikTok, in denen sie zu Popsongs singen und tanzen.

Auch in Hongkong ist die Meinungsfreiheit der Bürger:innen stark bedroht – vor allem, seit die chinesische Regierung ein umstrittenes Sicherheitsgesetz verabschiedet hat. Darauf reagiert die EU jetzt, indem sie den Export von Überwachungstechnologie einschränkt, die gegen die Hongkonger Bevölkerung eingesetzt werden könnte. Zudem will die EU Asylverfahren für politisch Verfolgte aus Hongkong vereinfachen.

Vergessen und Erinnern im Netz

Der Wunsch, vergessen zu werden, kommt wohl nicht allzu häufig vor. Aber der Europäische Gerichtshof hat jedem und jeder EU-Bürger:in das Recht darauf zugesichert – wenn es um veraltete Informationen im Netz geht. In dieser Woche hat der Bundesgerichtshof auf Grundlage dessen entschieden, dass von Fall zu Fall geschaut werden muss, ob ein:e Kläger:in sein Recht auf Vergessenwerden tatsächlich geltend machen kann.

Niemals vergessen werden die Verbrechen der Nazis im Dritten Reich. Genau deswegen will Google offenbar das tschechische Spiel „Attentat 1942“ nicht im deutschen Play Store zulassen. Das Spiel enthält zwar verbotene Symbole der NS-Diktatur. Es ist jedoch seit 2018 als Desktop-Version in Deutschland erlaubt, denn es handelt sich um ein ernsthaftes, von Historiker:innen entwickeltes Spiel. Der Entwickler steht vor einem Rätsel.

Da war ja noch was…

… ach ja, Corona. Die Gesichtsmaske gehört neben Haustürschlüssel, Geldbeutel und Smartphone inzwischen zu den Dingen, die wir sehr ungern zu Hause vergessen. Dass sie nicht nur vor dem Virus, sondern auch vor Gesichtserkennung schützt, hat jetzt eine Studie in den USA herausgefunden. Allerdings füttern Forschende und Überwachungsunternehmen ihre Computer schon jetzt mit Datensätzen maskierter Menschen – der Schutz könnte in dieser Hinsicht also von kurzer Dauer sein.

Apropos Schutz: Da sollte ja eigentlich auch die Corona-Warn-App helfen. Über deren technische Mängel haben sich in den vergangenen Tagen die Berichte gehäuft. Woran es bei den Herstellerfirmen hapert, steht in unserem Kommentar.

Und sonst so?

Schnelles Internet – in vielen Regionen Deutschlands leider immer noch Fehlanzeige. Dass sich daran wenig geändert hat, obwohl die Bundesregierung Milliarden in den Breitbandausbau stecken will, zeigen aktuelle Zahlen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Viele Fördermittel bleiben unangetastet.

Die Bundeswehr steht in diesen Tagen wieder oft im Fokus – allerdings fand der Erstflug ihrer neuen Drohne in Israel auf Twitter weniger Beachtung. Es ist die erste von insgesamt fünf beorderten Drohnen, die auch zur Bewaffnung geeignet sein sollen. Über diese Option muss der Bundestag allerdings noch entscheiden.

Wer sich Sorgen um seine Privatsphäre und persönliche Daten macht, scheiterte bislang wahrscheinlich vor allem bei der Suche nach einem Smartphone, das wirklich Sicherheit bietet. Mit dem PinePhone erscheint ein vielversprechender Kandidat. Ob es auch alltagstauglich und für Anfänger:innen geeignet ist, haben wir den passionierten Linux-Nutzer Andreas Paetsch gefragt.

Wir wünschen euch ein schönes Wochenende.

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Was vom Tage übrig blieb: Fünf Jahre, eine Entschuldigung und Festnahmen wegen Fake news

Netzpolitik - Fri, 31/07/2020 - 17:27

Fünf Jahres Landesverrat (Bits Newsletter)
Fünf Jahre ist es her, dass der ehemalige Verfassungsschutzchef und heutige Rechtspopulist Hans-Georg Maaßen Teile der netzpolitik.org-Redaktion im Gefängnis sehen wollte. Markus Beckedahl schaut noch einmal kurz zurück auf den Skandal, der uns im Jahr 2015 erschütterte und mit einem Sieg für die Pressefreiheit ausging. Danke für die Solidarität – damals und heute.

India arrests dozens of journalists in clampdown on critics of Covid-19 response (The Guardian)
Der Guardian berichtet, wie unter dem Vorwand des Kampfes gegen „Fake News“ in Indien mehr als 50 Journalist:innen verhaftet oder anderweitig von der Polizei eingeschränkt wurden, die sich kritisch über dem Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie geäußert haben. In einem Fall wurde demzufolge als Grundlage ein 123 Jahre altes Seuchenbekämpfungsgesetz herangezogen.

G20-Gipfel in Hamburg: Entschuldigung für Akkreditierungsentzug (tagesschau.de)
32 Journalist:innen hatte die Hamburger Polizei 2017 die Presseakkreditierung zum G20-Gipfel in Hamburg entzogen. Dass das in vielen Fällen unbegründet war und unter anderem auf fehlerhaften Polizeidatenbanken beruhte, ist inzwischen gut dokumentiert und in einigen Fällen auch gerichtlich bestätigt. Jetzt hat sich die Hamburger Polizei dafür entschuldigt – zumindest bei einem Journalisten. Dem NDR zufolge erhielt Ertugrul Yigit ein Schreiben des Hamburger Polizeipräsidenten, in dem dieser das „unbeabsichtigte Fehlverhalten der eingesetzten Polizeibediensteten“ eingesteht.

Facebook-Geschäft wächst langsamer (t-online.de)
„Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen dem, wie die große Mehrheit der Leute unsere Dienste erlebt und dem Eindruck, den man gewinnen könnte, wenn man nur die Kommentare über Facebook liest.“ So bitter beklagt sich Mark Zuckerberg laut dpa bei der Vorstellung der Quartalszahlen über die schlechte Presse für sein Unternehmen. Und auch wenn die Wachstumsgeschwindigkeit vor dem Hintergrund der Corona-Krise und des Werbeboykotts großer Firmen nachlässt: Die Zahlen geben ihm Recht. Der Umsatz seines Werbekonzerns wuchs im vergangenen Quartal um 11 Prozent auf 18,8 Milliarden Dollar. Der Gewinn belief sich auf 5,2 Milliarden Dollar. Nach eigenen Angaben nutzen inzwischen 2,6 Milliarden Menschen das blaue Netzwerk mindestens monatlich. Nimmt man WhatsApp und Instagram hinzu, liegt die Zahl der monatlichen Nutzer:innen bei 3,1 Milliarden.

Jeden Tag bleiben im Chat der Redaktion zahlreiche Links und Themen liegen. Doch die sind viel zu spannend, um sie nicht zu teilen. Deswegen gibt es jetzt die Rubrik „Was vom Tage übrig blieb“, in der die Redakteurinnen und Redakteure gemeinschaftlich solche Links kuratieren und sie unter der Woche um 18 Uhr samt einem aktuellen Ausblick aus unserem Büro veröffentlichen. Wir freuen uns über weitere spannende Links und kurze Beschreibungen der verlinkten Inhalte, die ihr unter dieser Sammlung ergänzen könnt.

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Reaktion auf Sicherheitsgesetz: EU-Staaten wollen Exporte von Überwachungstechnologie nach Hongkong und China einschränken

Netzpolitik - Fri, 31/07/2020 - 12:59

Vereinfachte Asylverfahren für Hongkonger Bürger:innen, Überprüfung von Auslieferungsabkommen und ein Exportstopp für Überwachungstechnologie: Diese und andere Maßnahmen hat der Rat der Europäischen Union in der vergangenen Woche beschlossen, um sich gegen das nationale Sicherheitsgesetz zu positionieren.

Die chinesische Regierung führte das umstrittene Gesetz Ende Juni in Hongkong ein, um gegen die anhaltenden Proteste vorzugehen, die sich im vergangenen Jahr an einem Auslieferungsabkommen zwischen Hongkong und Festland-China entzündet hatten. Das Abkommen wurde wegen des Widerstandes der Bevölkerung nicht verabschiedet; die Demonstrationen hielten dennoch an, auch weil sie das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte als Gefahr für die Demokratie empfanden. Das Sicherheitsgesetz räumt der Regierung weitreichende Möglichkeiten ein, gegen vermeintliche Widerständige vorzugehen.

Der Rat der EU-Mitgliedsregierungen äußert mit seiner Entscheidung „große Besorgnis“ über die Entwicklungen und sieht die Beziehungen zwischen China und der EU davon bedroht. Er missbilligt sowohl den Inhalt des Gesetzes als auch die Art und Weise der Einführung. Als Sofortmaßnahme empfiehlt die EU ihren Mitgliedern „das Prüfen und Limitieren des Exports spezieller sensibler Ausrüstung und Technologien für die Nutzung in Hongkong; besonders wenn es die begründete Annahme gibt, dass diese für Repressalien, das Abhören interner Kommunikation oder für Cyber-Überwachung genutzt werden könnten.“

Der Exportstopp betrifft also nicht nur Hongkong, sondern auch China und potenziell alle weiteren Drittstaaten, die die Technologie in Hongkong einsetzen könnten. Im Sicherheitsgesetz ist festgeschrieben, dass „der Staatsrat der Volksrepublik China in der Sonderverwaltungszone Hongkong ein Büro für die Sicherung der nationalen Sicherheit einrichten soll“. Dieses Büro soll unter anderem Informationen sammeln, die die nationale Sicherheit betreffen. Somit müssen EU-Staaten ihre Exportbeschränkungen auch auf die Volksrepublik ausdehnen.

Eher geringe Auswirkungen auf deutsche Exportpolitik

Die konkrete Umsetzung der Maßnahmen bleibt den Mitgliedsstaaten überlassen. In der Presseerklärung bleibt zudem offen, welche Technologien genau davon betroffen sein werden. Auch auf Nachfrage von netzpolitik.org lieferte der Rat keine genaueren Informationen.

Das Bundeswirtschaftsministerium teilte auf Anfrage mit, der Beschluss umfasse Güter, die zur Überwachung der Bevölkerung eingesetzt werden können, „vor allem im Bereich Telekommunikation und Cyber, unter anderem Spysoftware“. Betroffen seien auch „Ausrüstung für Polizei und Militär, Wasserwerfer oder Ähnliches“ und Güter, die in der EU-Anti-Folter-Verordnung aufgeführt sind, beispielsweise Reizgas. Deutschland habe außerdem seit 2015 „zusätzlich einige Güter zur Telekommunikationsüberwachung […] national gelistet und damit der Ausfuhrkontrolle unterworfen.“

Auf die deutsche Exportpolitik dürfte die Entscheidung aber ohnehin keinen besonders großen Einfluss haben, selbst wenn Deutschland die Empfehlungen auf nationaler Ebene umsetzt. In den Rüstungsexportberichten der vergangenen Jahre taucht Hongkong nur sehr spärlich auf.

2018 etwa kaufte Hongkong [PDF] aus Deutschland eine Datenbank für Detektionsausrüstung. 2017 hat die Bundesregierung fünf Exportanträge abgelehnt [PDF], 2016 immerhin zwei von vier [PDF]. Deutsche Firmen haben in diesen Fällen Teile für Tauchausrüstung, Waffenzielgeräte und Teile für Revolver nach Hongkong verkauft. Keiner dieser Exporte dürfte unter die angedachten Restriktionen für Überwachungstechnologie fallen. Auch Dual-Use-Technologie, die im Zielland sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden könnte, ist in den Rüstungsexportberichten aufgeführt. Auch hier ist Hongkong kein wichtiger Abnehmer deutscher Exportgüter.

Ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums bestätigte, dass in den letzten fünf Jahren keine Ausfuhren von Ausrüstung zur Telekommunikationsüberwachung oder Güter, die in der Anti-Folter-Verordnung der EU aufgeführt sind, nach Hongkong genehmigt wurden. Exportanträge nach Hongkong seien in den letzten Jahren vergleichbar mit Anträgen für China behandelt werden.

Gegen China besteht seit 1989 ein EU-weites Waffenembargo [PDF]. Die Entscheidung traf die EU nachdem China die Demokratiebewegung gewaltsam niedergeschlagen hatte. In den Exportberichten der vergangenen Jahre taucht China nur mit Treibstoff und verschiedenen Chemikalien auf, deren Export die Bundesregierung genehmigte.

Auswärtiges Amt warnt vor freier Meinungsäußerung

Der Rat beschloss darüber hinaus eine generelle Unterstützung der Zivilgesellschaft, aber auch verstärkte Zusammenarbeit mit Hongkongs Universitäten und vereinfachte Asyl- und Visa-Verfahren für politisch verfolgte Menschen aus Hongkong. Außerdem können die Mitgliedsstaaten prüfen, ob das neue Gesetz Einfluss auf ihre Auslieferungspraxis nach Hongkong haben sollte. Vorläufig sollen keine neuen Verhandlungen mit Hongkong aufgenommen werden.

Der Rat regt zudem an, die Risiken für EU-Bürger:innen in Hongkong zu diskutieren. Das Auswärtige Amt warnt auf seiner Webseite schon vor dem neuen Sicherheitsgesetz:

In Hongkong ist am 30. Juni 2020 ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft getreten, das für neue und nicht klar definierte Tatbestände der Sezession, Subversion, Terrorismus sowie Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten Strafandrohungen bis zu lebenslanger Haft vorsieht. Gleichzeitig werden auch Handlungen, die außerhalb des Territoriums von Hongkong von Ausländern begangen werden, in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezogen. Es kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass deutsche Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger in Hongkong von Maßnahmen aufgrund des neuen Gesetzes betroffen werden. […]Seien Sie besonders vorsichtig und seien Sie sich bewusst, dass politische Äußerungen, auch in den Sozialen Medien, als relevant betrachtet werden können.

Hongkongs Autonomie-Status in Gefahr

Kritiker:innen sehen in dem nationalen Sicherheitsgesetz einen Verstoß gegen Artikel 23 des „Hong Kong Basic Law“, demzufolge Hongkong Sicherheitsgesetze eigenständig verabschiedet. Das „Hong Kong Basic Law“ entspricht einer Verfassung der Sonderverwaltungszone und ist Teil des Abkommens zwischen China und dem Vereinigten Königreich aus dem Jahr 1997.

Hongkong ist seitdem keine britische Kronkolonie mehr, sondern Teil der Volksrepublik. Mit dem Abkommen gewährte China Hongkong aber bestimmte Autonomierechte. Die Region sollte kapitalistisch und demokratisch bleiben dürfen und Freiheits- und Bürgerrechte, die in China nicht gelten, sollten für die Hongkonger Bürger:innen bestehen bleiben – laut Vertrag zumindest bis 2047.

Diese Sonderrechte sehen die Demonstrant:innen und auch der Rat der Europäischen Union durch das neue Gesetz nun gefährdet. Auch die Vereinigten Staaten und Großbritannien hatten Sanktionen gegen China und Hongkong verhängt. Diese sind allerdings wesentlich weitreichender als die der Europäischen Union, weil sie sich konkret gegen einzelne chinesische Beamte richten.

Hinweis: Die beiden Statements des Bundeswirtschaftsministeriums wurden nachträglich eingefügt.

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PimEyes: Saskia Esken und Polizei-Gewerkschaften fordern Schutz vor Gesichtserkennung

Netzpolitik - Fri, 31/07/2020 - 07:00

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken fordert hohe rechtliche Hürden für Gesichtserkennung. Weitere Politiker:innen wollen eine strengere Regulierung oder gar ein Verbot. Damit steigt der Druck auf die Bundesregierung, sich deutlicher zum Einsatz der Technologie zu positionieren. Zudem verlangen nach unserer Veröffentlichung zum Missbrauchspotenzial der Suchmaschine PimEyes auch die beiden großen Polizei-Gewerkschaften ein Verbot, da sie Polizist:innen identifizieren könnte.

Die Anfang Juli erschienene Recherche zeigte, wie PimEyes dazu beiträgt, unsere Anonymität abzuschaffen. Die polnische Betreiberfirma will die Gesichter von 900 Millionen Menschen in einer Biometrie-Datenbank gesammelt haben. Diese könnten mithilfe der kostenlosen Suchmaschine bereits anhand eines Schnappschusses ermittelt werden. Die Suchmaschine zeigt Websites mit übereinstimmenden Gesichtern, so lassen sich gesuchten Personen häufig Namen, Beruf und vieles mehr zuordnen.

Das ist ein Problem für alle, die offen ihr Gesicht zeigen, aber nicht ihren Namen verraten möchten, etwa auf Dating-Portalen oder politischen Demonstrationen.

Angriff auf Grundrechte

Die SPD-Vorsitzende Esken hält den Einsatz dieser Technologie auch unter ethischen Gesichtspunkten für problematisch. Dies gelte nicht nur für private Unternehmen wie PimEyes, sondern auch für die Sicherheitsbehörden selbst. „Der Einsatz dieser Technologien unter Verwendung öffentlich verfügbarer Fotos stellt einen sehr weitreichenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar“, sagt die Netzpolitikerin. „Gerade angesichts der noch unklaren Reichweite und Kollateralschäden dieser neuen Technologien müssen rechtliche Hürden entsprechend hoch angesetzt sein.“

Mit der Suchmaschine können Nutzer:innen auch versuchen, Polizist:innen zu ermitteln. „Solch eine Suchmaschine birgt riesige Gefahren für die Anonymität der Bürgerinnen und Bürger und hat in privaten Händen nichts zu suchen“, sagt Hagen Husgen aus dem Bundesvorstand der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Diese Software ist gefährlich und sie muss verboten werden.“ Der Gesetzgeber, so Husgen, müsse so schnell wie möglich aktiv werden. „Selbstverständlich bestehen die Befürchtungen, dass auch Daten unserer Kolleginnen und Kollegen abgeglichen, festgestellt und für Jedermann öffentlich gemacht werden. Ein Horror-Szenario, jedoch nicht nur für die Polizei.“

Ähnlich deutlich positioniert sich auch die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG). Es sei nicht akzeptabel, wenn private Unternehmen solche Software anböten.

Anfang des Jahres enthüllte die New York Times bereits die Machenschaften des US-Start-ups Clearview AI, das drei Milliarden Fotos gesammelt haben soll und seine Gesichtersuche an Polizeibehörden verkaufte. Der Fall PimEyes holt das Problem in die EU.

„Gemeinsam mit den Datenschutzbehörden müssen wir deshalb auf nationaler wie auf europäischer Ebene prüfen, ob die bisherigen gesetzlichen Regelungen, vor allem die Datenschutzgrundverordnung, ausreichend Schutz bieten und andernfalls auf europäischer Ebene gesetzgeberisch tätig werden“, sagt die SPD-Vorsitzende Esken.

Sie spricht damit ein elementares Problem an. Denn mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat die Europäische Union nach Ansicht von Datenschützer:innen längst verboten, was PimEyes getan hat. Darauf verweist auch Mathias Middelberg, innenpolitischer Sprecher der Union im Bundestag. Er sagt: „Software wie PimEyes darf nicht zum Sicherheitsrisiko für unsere Bürgerinnen und Bürger und unsere Polizei werden.“

Warum konnte PimEyes ungestört Fotos sammeln?

Dennoch hinderte die DSGVO PimEyes offenkundig nicht am Aufbau seiner Suchmaschine. Über Jahre hinweg schritt wohl niemand ein, während das Unternehmen sensible Daten hortete. „Da auch Bürgerinnen und Bürger sowie Polizeibeamte in Deutschland und Europa betroffen sein können, müssen auch der deutsche Datenschutzbeauftragte und die EU-Kommission auf die Einhaltung geltenden Rechts drängen“, so Middelberg. „Die polnische Datenschutzaufsicht muss nun dringend tätig werden.“

Bei unseren Recherchen hatten wir der polnischen Datenaufsicht Urzad Ochrony Danych Osobowych (UODO) schriftlich Fragen zu PimEyes gestellt. Sie antwortete jedoch erst, nachdem in der Folge unserer Veröffentlichung auch andere Medien wie DER SPIEGEL, der WDR und der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Polen über die Gesichter-Suchmaschine berichtet hatten.

In einer E-Mail räumt UODO ein, von dem Unternehmen zu wissen. Zu jenem Zeitpunkt hatte der deutsche Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber bereits eine Beschwerde der Linken-Politikerin Anke Domscheit-Berg übermittelt.

Bis heute verzichtet die Behörde jedoch darauf, tiefergehende Fragen zu dem Fall zu beantworten – etwa, ob ihr noch weitere Beschwerden über die Gesichter-Suchmaschine vorliegen. Es sei zu früh, um sich zu PimEyes und den eigenen Aktivitäten zu äußern.

Keine Überwachung im öffentlichen Raum

Deutsche Politiker:innen haben dagegen keine Zweifel daran, wie die öffentliche Gesichtersuche von PimEyes zu bewerten ist. FDP und Grüne fordern Konsequenzen. „Bürgerinnen und Bürger müssen sich auch im Internet auf den Schutz ihrer Privatsphäre verlassen können“, sagt Mario Brandenburg, technologiepolitischer Sprecher der FDP. Für Fälle, in denen gravierende Verstöße deutlich werden, wünscht er sich Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften, die eine zügige Rechtsdurchsetzung ermöglichen sollen.

Konstantin von Notz, stellvertretender Vorsitzender der Grünenfraktion, sieht die Bundesregierung in der Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen. Sie müsse eine klare Haltung zeigen und sicherstellen, dass biometrische Daten nicht gegen den Willen der Betroffenen erfasst und ausgewertet werden. „Dieser erneute Skandal muss für die Bundesregierung endlich Anlass genug sein, angesichts der potenziell schweren Grundrechtsverstöße ihre große Lust am Ausbau von totalitären hochgefährlichen Gesichtserkennungstechnologien im öffentlichen Raum zu überdenken“, so von Notz. Zu Beginn des Jahres hatte er sich bereits gegen den Einsatz von Gesichtserkennung durch Überwachungskameras an Bahnhöfen und Flughäfen ausgesprochen – ein Plan, den das Innenministerium inzwischen zurückgezogen hat.

Strengere Gesetze in Deutschland könnten zwar eine Signalwirkung haben, die Suchmaschine PimEyes zeigt aber auch, wie wenig sich die Technologie um Landesgrenzen kümmert. Wenig spricht dafür, dass sich das Problem auf Dauer ohne die EU lösen lässt.

Die europäische Lösung

Auch deutsche EU-Politiker:innen lehnen Gesichtserkennung zumindest teilweise ab. Darüber, wie das aussehen soll, herrscht jedoch Uneinigkeit.

„Meines Erachtens ist durch die Recherche zu PimEyes klar, dass diese Technologie auch in Europa bereits jetzt missbraucht wird“, sagt die Europaabgeordnete Alexandra Geese von den Grünen. Vor allem Frauen seien durch Stalker gefährdet, letztendlich gefährde die Technologie aber auch unsere Demokratie. „Wie können Menschen in Freiheit leben, wenn sie digital auf Schritt und Tritt überwacht werden können?“, fragt Geese. „Deswegen ist ein Moratorium das Minimum, das die EU-Kommission jetzt vorschlagen sollte, besser wäre ein Verbot.“

Auch der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken hofft auf Maßnahmen. „Ich finde, wir sind es dem Schutz unserer Demokratie, den Grundrechten der Europäerinnen und Europäer und unserer Freiheit schuldig, Gesichtserkennung jetzt sofort mit einem Moratorium in der EU zu untersagen und sehr sorgfältig die Vor- und Nachteile abzuwägen“, sagt er. Eine solche Entscheidung benötige mehrere Jahre Zeit. „Daher brauchen wir das Moratorium“, sagt Wölken, „und wir brauchen den Willen, am Ende auch ‚nein‘ zu dieser Technologie zu sagen“.

Warum die EU noch nicht mehr getan hat

In einem frühen Entwurf des Weißbuchs zur KI-Strategie der EU-Kommission aus dem Dezember war ein Moratorium, also eine zeitweilige Pause für den Einsatz der Technologie, bereits vorgeschlagen worden – für drei bis fünf Jahre. Die Passage wurde später gestrichen.

Gerade Sicherheitspolitiker:innen beharren auf dem angeblich enormen Nutzen, den Gesichtserkennung etwa bei Ermittlungen habe. Die Abgeordneten Geese und Wölken kennen dieses Argument. Sie fürchten auch die Lobby-Arbeit von Digitalkonzernen, die mit Gesichtserkennung viel Geld verdienen wollen.

Und dann ist da noch Axel Voss von der CDU. Er ist rechtspolitischer Sprecher der EVP, also der größten Fraktion des Europaparlaments, und Mitglied des Sonderausschusses für künstliche Intelligenz. Voss könnte in diesem Bereich viel bewegen, wenn er denn wollte. Im Januar sagte er in einer Sitzung des Rechtsausschusses allerdings wörtlich: „Ich kann nicht erkennen, was für einen Vorteil es bringt, wenn man einfach mal sagt, wir stoppen mal die Anwendung von Gesichtserkennung in Europa. Woanders geht es überall weiter.“

Nach den Enthüllungen zu PimEyes haben wir den CDU-Politiker gefragt, ob er an seiner Einschätzung festhält.

Voss will sofortige Regulierung von Gesichtserkennung

Voss gibt an, er sehe keinen Sinn darin, eine Entscheidung über die Regulierung der Technologie etwa per Moratorium aufzuschieben. „Wir wissen um die Gefährlichkeit von Gesichtserkennung und wir haben Vorstellungen davon, in welchen Bereichen sie sinnvoll eingesetzt werden kann. Warum also warten?“ Seiner Ansicht nach sei die Entwicklung dieser Systeme unaufhaltsam. Deshalb spricht er sich für eine sofortige Regulierung aus.

Den Sicherheitsbehörden möchte Voss den Einsatz von Gesichtserkennung nicht verbieten, in anderen Bereichen zeigt er sich gesprächsbereit. „Das lässt sich hinsichtlich der Technik nicht so pauschal einfach beantworten und muss mehr differenziert und fallbezogen begutachtet werden. Wenn es allerdings um Bilddatenbanken selbst geht, sind diese außerhalb der Sicherheitsbehörden eher nicht zu akzeptieren.“

Demnach hat die öffentlich zugängliche Gesichtersuchmaschine PimEyes auch für Axel Voss eine Grenze überschritten. Nur warum geschieht nichts?

Wir fragen Voss, was er tun werde, um zu verhindern, dass biometrische Daten von Menschen in Deutschland gegen deren Willen erfasst und ausgewertet werden. „Diese – für die sich technologisch rasant ändernden Umstände – notwendige Bereitschaft für flexiblere, permanente und schnellere Regulierung, beziehungsweise Gesetzgebungsverfahren kann ich leider zur Zeit weder bei anderen politischen Parteien noch in unseren behäbigen Strukturen erkennen. Im Übrigen wären die Datenschutzbehörden aller Ebenen gefordert.“

Wir haken nach: Ob das bedeute, Voss werde selbst nichts tun, um den Missbrauch durch Firmen wie PimEyes einzudämmen? „Nein“, teilt Axel Voss per E-Mail mit. Was er aber zu unternehmen gedenkt, geht aus seinen Aussagen nicht hervor.

PimEyes führt Suchabfragen per Webcam ein

Während zuständige Politiker:innen und Datenschützer:innen den Fall prüfen, ist die Suchmaschine weiterhin online und lässt sich kinderleicht missbrauchen. Die Betreiber von PimEyes beteuerten gegenüber netzpolitik.org, ihr Dienst sei unbedenklich, weil er nur nach Gesichtern suche und nicht die Namen der Gesuchten ermittle. Einen Konflikt mit der DSGVO sehen die Betreiber demnach nicht. Zudem dürften Nutzer:innen nur ihr eigenes Gesicht suchen.

Kurz nach Veröffentlichung unserer Recherchen haben die Betreiber die Website verändert, offenbar um den möglichen Missbrauch einzuschränken: Vor dem Absenden einer Suchanfrage müssen Nutzer:innen zusätzlich per Mausklick versichern, dass sie selbst auf dem gesuchten Bild zu sehen sind.

Neu ist außerdem, dass PimEyes inzwischen nur noch Suchanfragen via Webcam erlaubt. Wer also ein fremdes Gesicht über PimEyes suchen möchte, kann jetzt nicht mehr wie zuvor einfach ein fremdes Foto aus dem Internet hochladen. Die Betreiber von PimEyes nennen das einen „wirksamen Schutz der Privatsphäre“ und erläutern: „Wir schützen das Recht des Einzelnen auf Privatsphäre“. Doch von „wirksam“ kann keine Rede sein. Wer trotzdem ein fremdes Gesicht suchen möchte, öffnet einfach ein beliebiges Foto auf dem Smartphone und hält es vor die Webcam.


https://netzpolitik.org/wp-upload/2020/07/pimeyes_webcam.mp4

Das erwähnte „Recht auf Privatsphäre“ scheint bei PimEyes auch nicht für jeden gleichermaßen zu gelten. Die Suchabfrage per Webcam erscheint nämlich nur, wenn Nutzer:innen die Suchmaschine mit einer IP-Adresse innerhalb der EU ansteuern. Wer seinen Standort mithilfe von VPN-Software verschleiert oder sich außerhalb der EU befindet, kann fremde Gesichter auf PimEyes weiterhin ohne irgendein Hindernis suchen und finden; das gilt übrigens auch für die Schweiz und Norwegen. In den Suchergebnissen tauchen weiterhin Menschen aus Deutschland auf.

PimEyes wirbt weiterhin mit massenhaften Suchabfragen

Wie oberflächlich die Änderungen bei PimEyes sind, zeigt ein Blick in die Features für zahlende Kund:innen. Dort hat sich nämlich kaum etwas verändert, auch innerhalb der EU. Weiterhin können Premium-Nutzer:innen für mehrere Gesichter automatische Benachrichtigungen einrichten, sobald neue Treffer in der Datenbank erscheinen. Nach wie vor locken die Betreiber mit besonderen Rabatten, wenn Entwickler:innen automatisierte Suchabfragen in Millionenhöhe durchführen wollen. Vom „wirksamen Schutz der Privatsphäre“ ist an dieser Stelle keine Rede mehr.

Der Widerstand der großen Social-Media-Plattformen hat offenbar Wirkung gezeigt: Da PimEyes auch Inhalte von Instagram und YouTube erfasst hat, haben die Konzerne rechtliche Schritte eingeleitet – wohl mit Erfolg. Konnten wir vor wenigen Wochen noch Fotos von Instagram, YouTube, Twitter und TikTok bei PimEyes aufspüren, ergeben entsprechende Suchanfragen inzwischen keine solchen Treffer mehr.

Weiterhin auffindbar sind aber Suchergebnisse von Pornoseiten, unter anderem von Deutschlands meistbesuchter Pornoseite xHamster. Das ist unter anderem eine Gefahr für Menschen, deren Nacktaufnahmen ohne ihr Einverständnis verbreitet wurden. Sie können durch PimEyes weiterhin bloßgestellt werden. Außerdem lässt sich mithilfe von PimEyes möglicherweise die Identität von Pornodarsteller:innen und Sexarbeiter:innen entlarven.

Bereits Anfang Juli hatte xHamster auf Anfrage von netzpolitik.org bestätigt: Es verstoße gegen die Nutzungsbedingungen, wenn Inhalte der Plattform bei PimEyes auftauchten. Ein Sprecher der Firma schreibt, er verstehe, dass eine Suchmaschine wie PimEyes ein „unglaubliches Risiko“ bedeuten könne. „Wer in der Pornobranche arbeitet, ist bereits mit Diskriminierung konfrontiert“, schreibt der Sprecher, unter anderem „bei der Wohnungssuche, beim Banking, durch Gesetze und in der Gesellschaft allgemein“.

Im Gegensatz zu Instagram und YouTube hat xHamster aber noch keine Unterlassungserklärung an PimEyes geschickt. Warum nicht? „Wir wussten nichts von dem Erfolg der anderen Plattformen“, schreibt der xHamster-Sprecher Wochen später auf unsere erneute Nachfrage. Aber die Rechtsabteilung arbeite daran.

Dabei wäre Widerstand offenbar das einzige, was bei PimEyes Änderungen bewirkt. Am 13. Juli hat Tiemo Wölken der EU-Kommission eine parlamentarische Anfrage zu einem Moratorium gegen Gesichtserkennung gestellt. Die Antwort steht noch aus.

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Mehrjährige Haftstrafen: Influencerinnen in Ägypten müssen wegen TikTok-Videos ins Gefängnis

Netzpolitik - Thu, 30/07/2020 - 17:02

Die ägyptische Justiz geht hart gegen Influencer:innen im eigenen Land vor: Innerhalb einer Woche hat ein Gericht in Kairo sechs junge Frauen zu Haftstrafen von bis zu drei Jahren verurteilt. Dazu kommen hohe Geldstrafen.

Die Influencerin Manar Samy wurde am Mittwoch zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe von umgerechnet 16.000 Euro verurteilt, berichtet Spiegel Online unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AFP. Das Gericht wirft ihr demnach „Anstiftung zur Ausschweifung und Unmoral“ vor.

Am Montag waren bereits die zwei Bloggerinnen Haneen Hossam und Mawada El-Adham zu zweijährigen Haftstrafen und einer Geldstrafe von jeweils umgerechnet 16.000 Euro verurteilt worden. Auch gegen drei weitere in sozialen Netzwerken bekannte junge Frauen verhängte das Gericht Haftstrafen in Höhe von zwei Jahren. Ihre Namen wurden nicht öffentlich genannt. Ihnen allen wird vorgeworfen, gegen die „öffentliche Moral“ verstoßen zu haben. Rechtskräftig sind die Urteile noch nicht.

Petition für Freilassung von Influencer:innen gestartet

Manar Samy war bereits Anfang Juli wegen ihrer Aktivität im sozialen Netzwerk TikTok festgenommen worden, heißt es von der Staatsanwaltschaft. In ihren Videos tanzt sie und bewegt ihre Lippen zu Texten von Popsongs. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Sie habe die Videos „zum Zwecke der Prostitution“ veröffentlicht, und diese stellten einen „Verstoß gegen die öffentliche Moral“ dar.

Im Prozess am Montag warf das Gericht der 20-jährigen Haneen Hossam und der 22-jährigen Mawada El-Adham außerdem vor, ihre Tanzvideos seien „unzüchtig“ und sie hätten damit „die Werte und Prinzipien der ägyptischen Familie vergewaltigt“, berichtet die Deutsche Welle. Sie hätten zur „Unzucht“ angestiftet und Menschenhandel gefördert, sagte der Staatsanwalt.

Mawada El-Adham hat auf TikTok mehr als drei Millionen Follower:innen, Haneen Hossam folgen mehr als 900.000 und Manar Samy rund 185.000 Menschen auf der Online-Videoplattform. Unterstützung bekommen sie von einer Online-Petition mit inzwischen mehr als 5.100 Unterschriften. Gestartet wurde sie Anfang Juli von einem Account namens TikTokWomen, der die ägyptischen Behörden dazu aufruft, die Maßregelung und Verhaftung von Frauen auf TikTok zu stoppen. Außerdem appellieren die Unterstützer:innen an den Nationalrat der Frauen, die Influencerinnen rechtlich zu unterstützen. In der Petition werden auch die Namen sechs weiterer Frauen genannt, die auf TikTok öffentlich aktiv waren und innerhalb von drei Monaten festgenommen wurden.

Staat kontrolliert Konten in sozialen Netzwerken

Die Regierung in Ägypten hat 2018 ein Gesetz verabschiedet, das es ihr erlaubt, hart gegen Internetaktivist:innen und Influencer:innen vorzugehen. Social-Media-Konten mit mehr als 5.000 Follower:innen werden von der staatlichen Medienaufsicht überwacht. Diese kann sie auch blockieren, wenn sie nach Lesart der Regierung Falschmeldungen verbreiten, die Religion beschimpfen oder zu Hass, Gewalt, Fanatismus oder Rassismus aufrufen. Außerdem kann die Regierung Websites sperren, deren Inhalte ihrer Ansicht nach die nationale Sicherheit bedrohen. Auch wer, ob wissentlich oder nicht, versucht, diese Seiten aufzurufen, muss mit einer Geld- oder Haftstrafe rechnen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren die staatliche Kontrolle der Medien in Ägypten. Amnesty International bezeichnete die 2018 verabschiedeten Gesetze als einen weiteren Angriff auf die Meinungsfreiheit.

LGBTQI+ werden verfolgt

Im Jahr 2017 hatten es die ägyptischen Behörden in einer Verhaftungswelle bereits auf Schwule, Lesben und Transpersonen abgesehen. Mehr als fünfzig Menschen wurden festgenommen. Der Aktivist und Filmemacher Leil-Zahra Mortada kritisierte damals im Interview mit netzpolitik.org, dass die deutsche Bundesregierung eine Mitschuld trage an der Verfolgung und Kriminalisierung von Mitgliedern seiner Community.

Seine Kritik gründete er auf dem Polizeivertrag zwischen dem Bundeskriminalamt und den ägyptischen Sicherheitsbehörden. Das BKA unterstützt auf dieser Grundlage den Staatssicherheitsdienst bei der Verfolgung von „Extremismus“. Unter diesen Begriff falle in Ägypten jedoch die gesamte Opposition sowie auch Schwule, Lesben und Transpersonen, kritisierte Mortada damals. Die Polizei nutzte unter anderem Fake-Verabredungen über die Dating-App Grindr, um Aktivist:innen festzunehmen.

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Was vom Tage übrig blieb: Taiwan, TikTok und Todesdrohungen

Netzpolitik - Thu, 30/07/2020 - 16:59

Rechtsextreme Morddrohungen: Hass 2.0 (Zeit online)
Die Zeit hat Rechtsextremen im Internet nachrecherchiert, die dort in Foren wie „Deutschland im Deep Web 2“ unter Nutzernamen wie „Stahlgewitter“ Hass verbreiten, sich organisieren und versuchen, Waffen zu kaufen. Inzwischen ist einer davon, André M., auch bekannt als „Nationalsozialistische Offensive“, angeklagt, weil er vermeintlich anonym Drohbriefe verschickt haben soll. Doch hängt er auch bei den Drohschreiben mit drin, die seit zwei Jahren verschickt und mit „NSU 2.0“ unterschrieben wurden? Möglich. Die Recherche kommt zu dem Schluss, dass die Ermittlungsbehörden die rechtsextremen Bedrohungen – wieder mal – nicht Ernst genommen haben. Das berichten die Betroffenen, denen wie der Kabarettistin Idil Baydar nahegelegt wurde, einfach die Handynummer zu wechseln. Und das zeigt, dass es bis heute gibt es keine zentrale Ermittlungsgruppe gibt, die die Fäden aus Berlin und Hessen und Bayern zusammenführt.

How Taiwan’s Unlikely Digital Minister Hacked the Pandemic (Wired)
Dieses Stück über die taiwanesische Digitalministerin Audrey Tang ist zwar schon eine Woche alt, wurde uns jedoch von einem Leser mit Bitte um Weiterverbreitung ans Herz gelegt. Bei Jubelportraits über Tech-Genies ist der Sachverständigenrat sonst eher skeptisch. Dieses hier aber ist wirklich lesenswert. Nicht nur, weil die ehemalige Hackerin so eine spannende Person ist („Tang ist zugleich sonderbar und ernstzunehmend; ein Schmetterling, der auch vor Schwergewichten nicht zurückschreckt.“) Sondern vor allem, weil sie politisch ziemlich viel richtig macht. Konsequent auf Open Data setzen, zum Beispiel. Oder Gelder locker machen, um damit Menschen zu empowern, die Technologie für das Gemeinwohl entwickeln. Oder auf Communities hören, die das Internet als ihre Heimat betrachten.

TikTok blasts ‚copycat‘ Facebook as US starts probe (BBC)
Die Videoschnipsel-Plattform TikTok geht in den USA zum Gegenangriff über und wirft Facebook vor, an einer Kopie des Dienstes zu arbeiten. Gegen das aus China stammende Unternehmen war kürzlich eine Untersuchung eingeleitet worden, die das Aus für die Plattform in den USA bedeuten könnte. „Reels“ soll der TikTok-Klon heißen und in Instagram eingebunden sein, ärgert sich der TikTok-Chef Kevin Mayer, der sich um den freien Markt und Verbraucherrechte in den USA Sorgen macht. Derweil stellt sich auch hierzulande die Frage, wie man mit dem sozialen Netzwerk umgehen soll. Dennis-Kenji Kipker und Michael Walkusz haben es bei Beck zusammengeschrieben: „TikTok-Verbot: nun auch in Deutschland?“

Jeden Tag bleiben im Chat der Redaktion zahlreiche Links und Themen liegen. Doch die sind viel zu spannend, um sie nicht zu teilen. Deswegen gibt es jetzt die Rubrik „Was vom Tage übrig blieb“, in der die Redakteurinnen und Redakteure gemeinschaftlich solche Links kuratieren und sie unter der Woche um 18 Uhr samt einem aktuellen Ausblick aus unserem Büro veröffentlichen. Wir freuen uns über weitere spannende Links und kurze Beschreibungen der verlinkten Inhalte, die ihr unter dieser Sammlung ergänzen könnt.

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Premiere: EU verhängt zum ersten Mal Sanktionen wegen Cyberangriffen

Netzpolitik - Thu, 30/07/2020 - 16:58

Der Rat der Europäischen Union hat heute beschlossen, restriktive Maßnahmen gegen sechs Personen und drei Einrichtungen zu verhängen, die nach Ansicht des Rates für verschiedene Cyberangriffe verantwortlich sind oder daran beteiligt waren. Dazu gehören der versuchte Cyberangriff auf die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) sowie die als „WannaCry“, „NotPetya“ und „Operation Cloud Hopper“ bekannten Angriffe. Heute hat die EU dieses Instrument zum ersten Mal genutzt.

Laut Pressemitteilung des Rates bestehen die Sanktionen unter anderem in einem Reiseverbot und im Einfrieren von Vermögenswerten. Darüber verbietet die Maßnahme Personen und Einrichtungen aus der EU, den gelisteten Personen und Einrichtungen finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen.

In der Liste der Sanktionen werden die Zuordnungen zu den jeweiligen Angriffen begründet. Im Dokument befinden sich sechs Personen, darunter zwei Chinesen und vier Russen. Außerdem listet die EU drei juristische Personen, denen sie Angriffe zuschreibt:

  1. Tianjin Huaying Haitai Science and Technology Development Co. Ltd aus China, das die EU mit „Cloud Hopper“ in Verbindung bringt. Die Operation Cloud Hopper richtete sich gegen Konzerne, unter anderem auch in der Europäischen Union.
  2. Chosun Expo aus Nordkorea wegen „WannaCry“ und Angriffen auf die polnische Finanzaufsicht und gegen Sony Pictures Entertainment sowie
  3. Main Centre for Special Technologies (GTsST) of the Main Directorate of the General Staff of the Armed Forces of the Russian Federation wegen „NotPetya“ und „EternalPetya“, mit dem das ukrainische Energienetz angegriffen wurde, Daten von europäischen Unternehmen mittels Ransomware verschlüsselt worden seien und dadurch ein großer ökonomischer Schaden entstanden sei.

Die Sanktionen sind ein neues Instrumentarium, der Rechtsrahmen für restriktive Maßnahmen gegen Cyberangriffe wurde erst im Mai 2019 angenommen und vor kurzem erneuert. Die EU will mit diesen Instrumenten „böswillige Cyberaktivitäten“, die sich gegen die Europäische Union oder ihre Mitgliedstaaten richten, verhindern, davor abschrecken oder darauf reagieren.

Laut des Rates sollen die restriktive Maßnahmen eine abschreckende Wirkung haben, sie seien von der Feststellung der Verantwortung eines Drittstaats zu unterscheiden.

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Big Tech vor US-Kongress: Wenn Universen aufeinanderprallen

Netzpolitik - Thu, 30/07/2020 - 15:22

Vieles gibt es nicht, auf das sich Demokraten und Republikaner derzeit einigen können. Einen gemeinsamen Feind scheinen sie aber zu haben, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: große Datenkonzerne aus dem Silicon Valley und deren schier unbegrenzte Marktmacht.

In einer gestrigen Anhörung stellten sich erstmals die Chefs der als „GAFA“ bekannten Unternehmen – die Anfangsbuchstaben der großen vier: Google, Apple, Facebook und Amazon – den Fragen von US-Abgeordneten. Es war der vorläufige Höhepunkt einer Untersuchung, den der Unterausschuss für Wettbewerb des US-Repräsentantenhauses vor über einem Jahr eingeleitet hatte.

Stand heute besäßen die Firmen eine „Monopolmacht“, sagte der Vorsitzende David Cicilline zum Abschluss der Anhörung. Einige der Unternehmen müssten aufgebrochen werden, und alle müssten angemessen reguliert und zur Verantwortung gezogen werden, so der demokratische Abgeordnete.

GAFA präsentieren sich als Wohltäter

Glaubt man hingegen den GAFA-Chefs, dann ähneln ihre Konzerne eher Wohltätigkeitsvereinen als billionenschweren Börsenlieblingen.

Google helfe kleinen Unternehmen, neue Kundschaften zu finden, lässt sich dem Eingangsstatement von Sundar Pichai entnehmen. Apple liege nichts mehr am Herzen als seine Kunden glücklich zu machen, sagt Tim Cook. Facebook habe aus dem Nichts eine Plattform erschaffen, die Menschen vernetze und so Mehrwert schaffe, sagt Mark Zuckerberg. Und Amazon sei gar nicht so groß, wie immer alle behaupten, sagt Jeff Bezos.

Doch diese Verteidigungslinie hielt näherer Betrachtung nur selten Stand. So wurde Zuckerberg mit internen Mails konfrontiert, die er 2012, vor der Übernahme der damals aufstrebenden Foto-Plattform Instagram, verfasst hatte.

Unstimmigkeiten bei der Instagram-Übernahme

Gehe das rasante Wachsum von Instagram so weiter, sorgte sich damals Zuckerberg, dann könnte dies „sehr disruptiv für uns werden“. Eine Übernahme würde den „Wettbewerber neutralisieren“ und zugleich Facebook verbessern, schrieb der Facebook-Chef. Dies sei jetzt schon illegal, sagte der Demokrat Jerry Nadler. Seine Parteifreundin Pramila Jayapal musste Zuckerberg später daran erinnern, unter Eid zu stehen, weil er sich in Widersprüche verwickelte.

Jeff Bezos wiederum räumte erstmals ein, dass Amazon womöglich Daten von Drittanbietern auf seiner Vertriebsplattform genutzt hatte, um sie später mit eigenen Produkten aus dem Markt zu verdrängen. „Bullying, Angst, Panik“ – so würden Dritthändler auf Amazon den e-Commerce-Giganten beschreiben, sagte die Demokratin Lucy McBath.

Mehr als eine Million Dokumente haben die Abgeordneten durchgeackert, befragten in mehreren Anhörungen stundenlang Experten und GAFA-Wettbewerber. Der dabei angesammelte Dokumentenschatz, der nun in einen Bericht einfließen soll, wird wohl nicht nur im Repräsentantenhaus eine weitere Rolle spielen. Auch laufende oder anstehende Untersuchungen, unter anderem der Federal Trade Commission (FTC), des US-Justizministeriums oder auch europäischer Wettbewerbshüter, könnten durch die Enthüllungen neue Nahrung erhalten.

Diese braucht die republikanische Minderheit im Repräsentantenhaus offensichtlich nicht. Die ist jetzt schon angefressen. Silicon Valley unterdrücke konservative Stimmen im Internet, hieß es unisono aus dem republikanischen Paralleluniversum. Die aggressive Linie, so absurd sie auch sein mag, scheint jedoch durchaus effizient zu sein.

Klagegeheul von Republikanern

Geradezu unterwürfig ließen sich die vier Chefs auf die Vorwürfe ein, denen man nur dann halbwegs folgen konnte, wenn die Mediendiät überwiegend aus Fox News, Breitbart und dem Twitter-Feed von Donald Trump besteht. Zwar wiesen Demokraten darauf hin, dass die meistgeklickten Artikel auf Facebook in den USA fast ausschließlich einen Rechts-Außen-Drall haben, wie Kevin Roose in der New York Times regelmäßig dokumentiert.

Um Fakten geht es dabei jedoch nicht, sondern darum, auf die „Schiedsrichter“, in diesem Fall die Plattformbetreiber, einzuwirken – eine lange erprobte und erfolgreiche Strategie US-amerikanischer Konservativer.

In vorauseilendem Gehorsam sträubt sich etwa Facebook beharrlich, seine Gemeinschaftsregeln für alle gleich auszulegen: Dabei würden vor allem rechte Accounts unter die Räder geraten, ergab vor einigen Jahren eine interne Untersuchung, weil sie sich besonders hetzerisch gerierten. Die inkonsistente Auslegung der Regeln wurde auf Drängen der schwer rechtslastigen Führungsriege nie angetastet, die Untersuchung unter Verschluss gehalten. Schließlich will es sich Zuckerberg, der Konservativen gern und regelmäßig sein Ohr leiht, nicht mit den mächtigen Republikanern vergraulen.

Vor allem der enge Trump-Verbündete Matt Gaetz, ein republikanischer Abgeordneter aus Florida, schien Blut geleckt zu haben. Zuckerberg versprach ihm unter anderem, sich Vorwürfe näher anzusehen, die angeblich jüngst von „Project Veritas“ aufgedeckt wurden. Die rechte Medienorganisation ist bekannt dafür, mit manipulierten Videos und irreführenden Darstellungen Stimmung zu machen. Eine Zeit lang war die Taktik erschreckend erfolgreich, inzwischen glaubt dem diskreditierten Gründer James O’Keefe aber niemand mehr. Außer rechten Verschwörungserzählern – und offenbar Mark Zuckerberg.

Auch Jeff Bezos knickte ohne Not vor bizarren Anschuldigungen ein. So kritisierte Gaetz, dass Amazon sich vom Southern Poverty Law Center (SPLC) dabei beraten ließe, an welche Organisationen Spenden aus dem AmazonSmile-Programm flössen. Das SPLC ist Konservativen seit je her ein Dorn im Auge, weil das Non-Profit rechte Extremisten beobachtet.

Es sei „kein perfektes System“, sagte Bezos, der sich „besseren Vorschlägen“ gegenüber offen zeigte. Bei Zuckerberg schwang sogar ein wenig Stolz mit, als er erklärte, überhaupt nicht mit SPLC zusammenzuarbeiten. Konservative wird’s freuen.

Jordan kocht „Cancel Culture“-Debatte auf

Jim Jordan, ein weiterer Kettenhund Donald Trumps, wollte wissen, ob der „Cancel Culture Mob“ gefährlich sei. Er bezog sich dabei auf eine US-Debatte, von der man eigentlich gehofft hatte, dass sie inzwischen sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden wäre. Nicht so in der konservativen Blase.

Die Auseinandersetzung hier vollständig abzubilden würde den Rahmen sprengen. Nur so viel: Alle vier CEOs halten es offenbar für eine gute Idee, dass der Kommentarteil der New York Times rechten Hardlinern wie dem US-Senator Tom Cotton eine Plattform zur Verfügung stellt, auf der sie ungestört ihre Gewaltfantasien ausleben können.

Tim Cook von Apple meinte zwar, nicht ganz „up to date“ zu sein, hält es aber für ein Problem, wenn „unterschiedliche Blickweisen gecancelt“ werden. Bürger:innen sollen selbst entscheiden, was sie denken. (Zum Realitätsabgleich: Es geht hier um mächtige Menschen wie eben Tom Cotton, die Bestsellerautorin Joanne Rowling oder die prominente Kommentatorin Bari Weiss, die gerade vermeintlich „gecancelt“ werden.)

Auch Jeff Bezos zeigte sich „im Allgemeinen besorgt“, schob die Schuld aber auf soziale Netzwerke. „Es scheint so zu sein, dass soziale Medien eine Maschine sind, die Nuance zerstört“. Dies sei nicht hilfreich in einer Demokratie. Pichai konnte einer verschwurbelten Frage von Jordan nicht ganz folgen und machte technische Probleme dafür verantwortlich, sie nicht vollständig gehört zu haben. Jedenfalls baue Google Plattformen, die Meinungsfreiheit erlaubten, sagte Pichai.

Zuckerberg aber, dessen Augen ausnahmsweise aufblitzten, verstieg sich sogar darauf, Progressive zu den eigentlichen Feinden der Demokratie zu erklären: „Ich bin sehr bestürzt darüber, dass einige illiberale Mächte in diesem Land gegen freie Meinungsäußerung vorgehen“.

Dieses klare Signal an Reaktionäre verheißt nichts Gutes für die anstehende US-Wahl. Die wird zu einem guten Teil im Internet und auf Facebook stattfinden – unter Bedingungen, die maßgeblich Konservative diktieren.

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Serious Game zum Nationalsozialismus: Google lässt kritisches Spiel in Deutschland nicht zu

Netzpolitik - Thu, 30/07/2020 - 09:13

In „Attentat 1942“ übernehmen die Spieler:innen die Rolle eines Enkelkindes, das etwas über die Verwicklung des Großvaters in das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 herausfinden soll. Der Holocaust-Organisator, Kriegsverbrecher und SS-Obergruppenführer Heydrich war während des zweiten Weltkriegs stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und ist im Jahr 1942 bei einem Anschlag in Prag getötet worden.

Eigentlich sollte die mobile Version des Videospiels „Attentat 1942“ ab heute weltweit für Smartphones und Tablets verfügbar sein. Doch Google will das Spiel nicht in allen Ländern im Playstore veröffentlichen. Neben Deutschland sind Frankreich, Österreich und Russland betroffen. Das Unternehmen begründete seine Entscheidung gegenüber tschechischen Entwicklerstudios Charles Games mit der Bezugnahme des Spiels auf Nazis. Das gaben die Entwickler:innen vergangene Woche auf ihrem Twitter-Kanal bekannt:

Google rejected Attentat 1942 due to Nazi references. After all the hard work, multiple e-mails, approval by German regulators, we're frustrated. How we're supposed to make an historically-accurate game about WW2 horrors without Nazis? We don't know. A thread. #indiegame #gamedev pic.twitter.com/iurQOzpvZd

— Charles Games (@CharlesGames_cz) July 17, 2020

Gegenüber netzpolitik.org berichtet Ond?ej Trho? von Charles Games, dass sie keinerlei Informationen bekommen hätten, was genau Google am Spiel für problematisch hält. Das Unternehmen habe nur zwei Nachrichten zur Ablehnung des Spiels bekommen, die erwähnten, dass der Bezug zu Nazis ein Problem sei. „Wir wissen nicht, was an historischem Filmmaterial, interaktiven, handgezeichneten Comics oder anderen Teilen des Spiels problematisch sein soll. Alle diese Teile beinhalten Darstellungen von Nazi-Symbolik, aber immer in einem kritischen Kontext, nie verherrlichend.“ 

Die fiktive Erzählung des Spiels führt über Gespräche in der Gegenwart und gezeichnete Passagen in der Vergangenheit durch die Geschichte des Attentates. Das Spiel aus dem Genre „Serious Games“ wurde mit tschechischen Historiker:innen entwickelt und soll historisch akkurat sein.

Diese historische Genauigkeit, inklusive der Verwendung von Symbolen der NS-Diktatur, scheint Google aber zu stören. Mit Verweis auf die Nazi-Bezüge im Spiel und die nationalen Gesetze in Deutschland soll das Spiel hierzulande nicht erscheinen.

Das ist schwer nachzuvollziehen, da die Desktop-Version seit 2018 für deutsche Gamer:innen über die Plattform Steam verfügbar ist. Die „Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle“ (USK), die für die Prüfung von Computerspielen in Deutschland zuständig ist, gab das Spiel ab 12 Jahren frei.

Googles Weigerung „wenig nachvollziehbar“

Der stellvertretende Geschäftsführer der USK, Lorenzo von Petersdorff erläutert für netzpolitik.org, nach welchen Kriterien die USK verfassungswidrige Symbole in Spielen beurteilt. Bei Verwendung von verbotenen Kennzeichen, überprüft die USK diese im Einzelfall. Dabei sei insbesondere die Rahmung des Kontextes der Darstellung, wie z. B. ein differenziert-kritischer Umgang mit den historischen Begebenheiten zu beurteilen.

Für „Attentat 1942“ entschied die USK, dass die Darstellung angemessen sei. Von Petersdorff gesteht Plattformen wie Google zu, ihre eigenen Richtlinien zu formulieren, die auch über das gesetzliche Maß hinaus gehen könnten. Trotzdem sei Googles Weigerung aus der Perspektive des deutschen Jugendschutzrechts und der USK „wenig nachvollziehbar“.

Ausnahmen vom Verbot verfassungswidriger Propaganda

Google beantwortete eine Anfrage von netzpolitik.org nicht. Die Entwickler:innen sind nach eigenen Angaben noch mit dem Unternehmen in Kontakt, haben aber keine Informationen, wann sie mit einer Entscheidung rechnen können. Google Tschechien habe sich an den US-Konzern gewandt, entschieden sei aber noch nichts.

Auch Apple hatte das Spiel zunächst abgelehnt. Im Apple Store sollte das Spiel in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht verfügbar sein. Auf die Beschwerde von Charles Games reagierte Apple aber und erteilte die Genehmigung.

Die Vorbehalte der Plattformen beziehen sich in Deutschland vermutlich auf §86a des Strafgesetzbuches. Dort ist das „Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen“ geregelt. Die Ausnahmen von diesem Verbot sind aber in Absatz 3 des Paragraphen genau definiert:

Absatz 1 [das Verbot und die Strafandrohung] gilt nicht, wenn das Propagandamittel oder die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.

Diese sogenannte Sozialadäquanzklausel wird seit 2018 auch für Videospiele angewendet. Die USK änderte ihre Rechtsauffassung und ließ damit auch Spiele zur Prüfung zu, die verfassungsfeindliche Symbole enthielten. Diese werden nun einzeln geprüft und im Zweifelsfall zugelassen. Eine Hakenkreuzarmbinde im Spiel konnte vorher Grund genug sein, ein Spiel abzulehnen. Ganz gleich, welche Haltung das Spiel einnahm. Attentat 1942 war in der Desktop-Version eines der ersten Spiele, die nach den neuen Regelungen in Deutschland zugelassen wurden.

„Keine Anhaltspunkte für Gesetzesverstoß“

Auch Felix Zimmermann vom Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und digitale Spiele hält „Attentat 1942“ für unproblematisch. Die Spieler:innen würden nicht einfach in die Rolle von Nazis schlüpfen. Vielmehr bekämen sie eine Einsicht in das Leben der Opfer: „Das Spiel rekonstruiert Erinnerungen und baut damit eine Zwischenebene zur Reflexion ein.“ Man sei nicht selbst in der Rolle des Opfers, sondern gewinne aus der Sicht eines Nachfahren Einblicke in die Erinnerungen verschiedener gesellschaftlicher Kreise. „Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das Spiel problematisch sein könnte oder gegen nationale Gesetze in Deutschland verstoßen könnte“, so Zimmermann weiter.

Der Geschichtswissenschaftler, der an der Universität Köln zum Vergangenheitserleben in digitalen Spielen forscht, betont, dass jedes Spiel einzeln geprüft werden müsse, um sicherzugehen, dass Nazi-Symbolik nicht nur eine ästhetische Funktion einnimmt. Spiele sollten nicht einfach nur Uniformen oder Architektur aus dem Dritten Reich übernehmen, um die Atmosphäre wieder heraufzubeschwören und die Welt der Nazis am Leben zu halten. Vielmehr müssten die Spiele eine antifaschistische Funktion erfüllen.

Das sieht er bei Attentat 1942 gegeben. Googles Argument, das Spiel könne gegen deutsche Gesetze verstoßen, hält er für fadenscheinig. Zwar laufe die Prüfung und besonders die Altersfreigabe bei mobilen Spielen ein bisschen anders ab und die Genehmigung einer Desktop-Version erlaube nicht automatisch die Veröffentlichung für Smartphones und Tablets, aber Zimmermann vermutet ökonomische Interessen. Google habe wohl Sorge, mit antifaschistischen Spielen Kund:innen zu vergraulen. „Insbesondere Mitglieder neu-rechter Gruppen fühlen sich manchmal angegriffen, wenn solche Spiele verfügbar sind. Hinter Gesetzen wie dem Paragraphen 86 versteckt sich der Konzern vermutlich nur“, so Zimmermann.

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