Netzpolitik
NPP 207: Warum Menschen auf Verschwörungstheorien reinfallen
Der Milliardär Bill Gates stecke dahinter, je nach Gemütslage auch mal die Weltgesundheitsorganisation und natürlich die Bundesregierung – wer etwas anderes schreibt, enthält wütende Post von Lesenden. Zum Coronavirus kursieren die wildesten Verschwörungserzählungen. Bestürzend groß ist die Zahl von Menschen, die dennoch bereit sind, sie zu glauben, zu verteidigen und aktiv weiterzuverbreiten.
Kurz nach dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr haben die Politikwissenschaftlerin Katharina Nocun und die Psychologin Pia Lamberty ein Buch veröffentlicht, das unter anderem Erklärungsansätze dafür liefert, warum selbst die eigenen Freund:innen auf einmal auf die abstrusen Mythen reinfallen können. Menschen, die zuvor vielleicht nie auffällig waren und nun dennoch Telegram-Gruppen beitreten, in denen die große Gefahr durch das Virus kleingeredet wird. Menschen, die sich zum Coronavirus von einem veganen Kochbuchautor besser beraten fühlen als von Virolog:innen.
Die Entwicklung ist beängstigend, aber nicht neu. Es gab sie nach dem rechtsextremistischen Terroranschlag in Hanau im Februar, auch schon nach dem Attentat am 11. September 2001 auf das World Trade Center. „Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ von Nocun und Lamberty macht klar, dass Verschwörungserzählungen ein uraltes Phänomen sind. In dieser Folge unseres Podcasts, die wir bereits Ende Juni aufgezeichnet haben, erläutern die Autorinnen, wann und wodurch die kruden Mythen entstehen.
Sie erklären auch, warum tatsächliche Skandale – wie die durch Edward Snowden enthüllte Massenüberwachung – ein ziemlich schlechter Grund sind, künftig hinter jedem großen Ereignis finstere Mächte zu wittern.
Shownotes
- „Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ von Katharina Nocun und Pia Lamberty (auch als Hörbuch)
- Corona-Pandemie: Wenn die Eltern plötzlich an Verschwörungstheorien glauben
- Attentat in Hanau: Der perfekte Verschwörungstheoretiker
- Attentat in Hanau: Der Kampf um die Deutungshoheit
- COVID-19: Gerüchte, Fake News und voreilige Wissenschaft in Corona-Zeiten
- Verschwörungstheorie: Warum ist QAnon so gefährlich? von frontal
NPP ist der Podcast von netzpolitik.org. Abonniert unser Audio-Angebot, etwa bei iTunes oder Spotify, oder ladet diese Folge herunter im Format MP3 oder OGG. Alle unsere Podcasts findet ihr unter: https://netzpolitik.org/podcast. Wie immer freuen wir uns über Kommentare, Wünsche und Verbesserungsvorschläge.
Redaktionelle Offenlegung: Katharina Nocun hat auch bei netzpolitik.org Texte veröffentlicht.
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Wochenrückblick KW33: Ein ganz besonderes Jubiläum
Wieder einmal geht eine aufregende Woche in der Redaktion zu Ende. Nicht ansatzweise so aufregend wie am Montag vor fünf Jahren natürlich, als die Ermittlung wegen Landesverrats gegen Markus Beckedahl, Andre Meister und unsere Quellen eingestellt wurden. Anlässlich dieses Jubiläums erinnern Constanze Kurz und Markus Beckedahl in einem Artikel und im NPP-Podcast an die damaligen Geschehnisse.
Sie berichten über Einschränkungen der Pressefreiheit und die Anmaßungen einiger politisch Verantwortlicher, aber auch über die Welle der Solidarität aus Journalismus, Politik und Öffentlichkeit, die netzpolitik.org in der heutigen Form erst möglich gemacht hat. Es konnten neue Stellen geschaffen, Büro-Räume angemietet und die Server-Infrastruktur verbessert werden. Hier können sogar Praktikant:innen bezahlt werden.
Doch wie das so ist, die Freude über das Jubiläum und die Einstellung der Ermittlungen kann nur ein kurzer Zwischenhalt sein. Auf dem Weg zum Ausbau von Grundrechten, Pressefreiheit, Datenschutz und Demokratie kann man ab und an zurückschauen, welche Strecke man schon zurückgelegt hat, aber nicht zu lange Rast machen. Der Gipfel möchte noch erklommen werden. Und daran haben wir auch diese Woche wieder gearbeitet.
Wenn die Milchkanne den Satelliten anfunktWer einen Berg besteigt, der sollte immer gut über den richtigen Weg und das Wetter informiert sein. Doch gerade in dünn besiedelten Gebieten hat sich das Wetter vielleicht mehrmals geändert, bis sich die entsprechende Vorhersage-Webseite aufgebaut hat. Schnelles Internet ist Mangelware. Die Bundesregierung versprach, mit schnellem Internetzugang Abhilfe zu schaffen. Jetzt stellt sich aber heraus: Gegenden, die als schwer erschließbar gelten, sollen nicht immer eine eigene Leitung bekommen. Die zum geflügelten Wort gewordene Milchkanne soll stattdessen mit Mobilfunk- oder Satelliteninternet ans Netz angeschlossen werden.
Überhaupt irgendeinen Internetzugang hätten sich die Wähler:innen in Belarus am vergangenen Wochenende gewünscht. Weil Präsident Lukaschenko mit Swetlana Tichanowskaja plötzlich eine ernstzunehmende Konkurrentin hatte, geriet der Autokrat in Sorge. Es gibt Berichte über Wahlfälschungen und gewalttätige Sicherheitskräfte. Webseiten und soziale Netzwerke waren am Wahlsonntag nicht mehr erreichbar. Lukaschenko holte nach offiziellen Angaben 80 Prozent der Stimmen, aber die Proteste im Land dauern an und sind so groß, dass auch das abgeschaltete Internet dem Despoten nicht mehr helfen könnte.
Vertrauen in Polizei und Behörden leidetDie deutsche Polizei kommt einfach nicht zur Ruhe. Nach einem erneuten Verdacht einer missbräuchlichen Datenabfrage der Berliner Polizei erhebt nun die Berliner Datenschutzbeauftragte den Vorwurf, die Polizei würde die Aufklärung verweigern. In dem Fall ging es um eine Drohung mit mutmaßlich rechtsextremem Hintergrund. Die Berliner Polizei kann für die Abfrage der Daten keinen nachvollziehbaren Grund angeben.
Fehlender Aufklärungswillen bei rechtsextremen Straftaten ist nicht unbedingt geeignet, das Vertrauen von Minderheiten in die Polizei zu stärken. Berichte über Racial Profiling ebenfalls nicht. Nachdem Innenminister Seehofer eine geplante Studie zu diesem Thema kurzerhand wieder abgesagt hat, fordert nun eine Bundestags-Petition, diese Praxis wissenschaftlich zu untersuchen. Sie kann noch bis zum 20. August gezeichnet werden.
Das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Behörden stärkt nicht unbedingt, wenn das Innenministerium Journalist:innen und Bürger:innen wichtige Informationen vorenthält oder unwahre Aussagen in die Welt setzt. So geschehen in Sachsen, wo die Polizei angeblich keine Daten von Corona-Infizierten und Menschen in Quarantäne bekommen haben sollte. Zwei kleine Anfragen der Opposition im Landtag haben nun gezeigt: Doch!
Ob „Instacops“ in die Bresche springen können und das Ansehen der Polizei verbessern? Wie sich Polizist:innen in sozialen Medien verhalten sollen, regelt ein neues „Merkblatt“ bei der Berliner Polizei. Neben klaren Vorgaben für Auftreten, Dienstgeheimnisse und Presseanfragen legen die Regeln auch fest, wofür Polizist:innen keine Werbung machen dürfen.
Irrlichternde KonzerneZum guten Benehmen für die Berliner Polizei gehört auch die Quellen-Prüfung. Die könnte jetzt erleichtert werden, weil Twitter russische und chinesische Staatsmedien als solche kennzeichnet. Journalistische Angebote, die redaktionell von der Regierung abhängen, empfiehlt der Twitter-Algorithmus nun nicht mehr. Wie viele Accounts nach welchen Kriterien betroffen sind, macht Twitter allerdings nicht transparent.
Ob die bessere Hälfte russischen Staatsmedien auf Twitter folgt, dürfte Nutzer:innen von Stalker-Apps auf dem Handy wahrscheinlich eher weniger interessieren. Viel eher, mit wem der/die Partner:in chattet, wer wann wo anruft oder mit wem sie auf Facebook befreundet sind. Um diese Form der Gewalt einzudämmen, hat Google angekündigt, Anzeigen für private Überwachungssoftware nicht mehr in der Suchmaschine auszuspielen. Eine Ausnahme sollten Anwendungen sein, mit denen Eltern ihre Kinder kontrollieren können. Dieses Schlupfloch machen sich Anbieter von Spionage-Software jetzt zunutze und sind weiterhin auf Google zu finden, berichtet Chris Köver.
Spionage-Apps gibt es zum Beispiel auch für Arbeitgeber:innen, die ihre Mitarbeiter:innen überwachen wollen. Um sich gegen so etwas zur Wehr zu setzen, gibt es in vielen Unternehmen den Betriebsrat, der die Interessen der Arbeitnehmer:innen vertritt. Auch die Angestellten der Bank N26 wollten einen Betriebsrat gründen. Das wollte die Führungsriege mit Verweis auf „Werte“ verhindern. Das sind offenbar nicht die Werte, an die Markus Reuter glaubt, der die Vorgänge kommentiert hat.
Wir würden jeden verstehen, der in einem solchen Unternehmen nicht mehr arbeiten möchte. Doch für einen solchen Schritt braucht es ja immer einen neuen Job, eine neue Perspektive. Die finden frustrierte N26-Mitarbeiter:innen im Augenblick wohl eher nicht bei Mozilla. Das Unternehmen hat wegen der Corona-Pandemie und sinkender Einnahmen ein Viertel seiner Belegschaft entlassen. Viele sind um die Zukunftsfähigkeit der Firma besorgt.
Big brother is watching your faceVon einer Firma, die um ein sicheres Internet besorgt ist, zu einer, die aus den Daten ihrer Kund:innen Kapital schlagen will. Ein spanisches Software-Unternehmen scannt in Zusammenarbeit mit dem Madrider Busbahnhof sämtliche Passagiere und wertet die Aufnahmen aus. Gesucht werden Passagiere mit Haftbefehl oder Taschendiebe am Bahnhof. Die Betreiber:innen des Busbahnhofs informierten die Fahrgäste nicht über die Verarbeitung ihrer biometrischen Daten.
Genau diese Art von automatisierter Gesichtserkennung hat ein Gericht in Südwales jetzt verboten. Die Polizei hatte unter anderem Teilnehmer:innen von Demonstrationen und Fußballfans massenhaft gescannt und die Gesichter unter anderem mit denen gesuchter Krimineller abgeglichen. Diese Technologie bedroht dem Gericht zufolge die Bürgerrechte.
Ob automatische Gesichtserkennung überhaupt ihren Zweck erfüllt, wenn sie beispielsweise an Flughäfen zur Passkontrolle eingesetzt wird, ist fraglich. Forschern ist es gelungen, die Systeme mit gemorphten Passbildern auszutricksen. Aus zwei Gesichtern wird eins und schon reist der eine unter dem Namen des anderen.
Nun nutzen aber nicht nur Sicherheitsbehörden automatisierte Gesichtserkennung, sondern auch digitale Plattformen wie Instagram. Jedes Bild zu morphen, was man dort hochlädt, erscheint eher wenig praktikabel. Eine Nutzerin verklagt in Illinois nun Instagram und den Mutterkonzern Facebook wegen unerlaubter Verarbeitung der Daten. Bei einer Verurteilung könnte es teuer werden.
Krieg und Frieden im InternetSoziale Netzwerke, die Datenschutzprobleme haben, da war doch was? Nachdem Donald Trump per Erlass allen Personen und Organisationen verbot, mit TikTok zusammenzuarbeiten, will die chinesische App dagegen vor Gericht vorgehen. TikTok hält die Vorwürfe für unbegründet und kritisiert, dass man dem Unternehmen keine Gelegenheit gegeben habe, Stellung zu nehmen. Auch Bürgerrechtler:innen räumen der Klage Chancen ein.
Die geopolitische Dimension des Konflikts um TikTok hat sich unser Markus Reuter in einem Kommentar angeschaut. Wenn Staaten ihre Konflikte im Netz austragen, befürchtet er als Ergebnis ein zersplittertes Internet, das mit der Idee des „WorldWideWebs“ nicht mehr viel gemein hat. Die Demokratie bleibt auf der Strecke.
Die Möglichkeiten des Internets für zwischenstaatliche Konflikte entdeckt mehr und mehr auch die Bundeswehr für sich. In einem Gastbeitrag erklärt Matthias Schulze von der Stiftung Wissenschaft und Politik, warum Cyber-Operationen eher etwas für Geheimdienste sind als für das Militär und warum staatliches Hacking die Grenze zwischen Krieg und Frieden verschwimmen lassen könnte.
Und sonst so?Die Welt am Sonntag hat einen Journalisten abgemahnt, der ein Foto eines Artikels aus der Print-Ausgabe der Zeitung getwittert hatte. Der Verlag wirft dem Journalisten eine Urheberrechtsverletzung vor. Der Artikel beschäftigte sich mit dem Fall des Social-Media-Leiters der Bundeswehr, der auf Instagram Likes für rechte Beiträge verteilt hatte.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert in einem Gutachten die Bundesregierung auf, beim Schutz von Whistleblowern nachzubessern. Einige deutsche Regeln entsprächen noch nicht den EU-Vorgaben, so der DGB. Hinweisgeber:innen seien beispielsweise noch zu wenig vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen oder anderen Repressalien durch den Arbeitgeber geschützt.
Nachbessern wollte die Bundesregierung eigentlich beim Patientendaten-Schutz-Gesetz. Nach der neuesten Änderung, die der Bundestag Anfang Juli beschlossen hatte, ist noch weniger klar, wofür das „Schutz“ im Namen des Gesetzes genau steht. Auf den letzten Metern baute der Gesundheitsausschuss eine Regelung ein, die es gesetzlichen Krankenkassen erlaubt, persönliche Daten ihrer Mitglieder für individualisierte Werbung zu verwenden, wenn diese nicht explizit widersprechen.
In einem Gastbeitrag berichten die Aktivist:innen Ilona Stuetz und Victoria Kure-Wu von mangelnder Diversität beim WirVsVirus-Hackathon der Bundesregierung. Das einzige von 1.500 Projekten, das sich mit Rassismus in der Corona-Krise beschäftigte, schaffte nicht mal die erste Runde der Vorauswahl. Auch das Feedback und die fehlende Unterstützung nach rechten Anfeindungen im Netz wirft die Frage auf, wer mit dem „Wir“ in „WirVsVirus“ gemeint ist.
Wir wünschen euch ein schönes Wochenende!
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Was vom Tage übrig bleibt: Falsche Fans, unsichere Gästelisten und ein ministerialer Schreibfehler
All Of My TikTok Followers Are Fake (Motherboard)
Sich falsche Likes und Follower:innen bei TikTok zu kaufen, scheint nicht schwer zu sein. Der Journalist Joseph Cox hat sich für 12 Dollar 250 Follower auf TikTok gekauft und später noch 1.000 Likes und 25.000 Views für ein Video. Ziel der Recherche war unter anderem herauszufinden, ob man damit den Algorithmus von TikTok antriggern konnte, um in den boostenden „For You“-Feed zu kommen.
Corona-Gästelisten – maßlose polizeiliche Datennutzung (Verfassungsblog)
„Die Gesetzeslage lässt aktuell keine Verwendung der Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung zu“ schreiben Hartmut Aden, Jan Fährmann und Clemens Arzt im Verfassungsblog, in einem Artikel, der die rechtlichen Umstände der Corona-Vorratsdatenspeicherung in Restaurants und anderen Lokalitäten unter die Lupe nimmt. Der Artikel bemängelt eine fehlende Norm im Infektionsschutzgesetz.
Österreichische App ersetzt unsichere Coronalisten in Restaurants (Futurezone)
Damit Restaurants zur Kontaktverfolgung nicht personenbezogene Daten ihrer Gäste horten, hat ein Österreicher eine App entwickelt, bei der Besucher:innen mit der Smartphone-Kamera nur einen QR-Code scannen müssen und so anonym „einchecken“, schreibt Futurezone. Namen und Adressen werden demnach nicht gespeichert. Stattdessen sollen Infizierte den Behörden mitteilen, wenn sie ein Restaurant besucht haben. Mithilfe der Registrierungen können über die App dann weitere Personen benachrichtigt werden, die sich angesteckt haben könnten. In Deutschland, wo mehrere Bundesländer wegen der Pandemie eine Registrierungspflicht vorschreiben, könnte die App mit Anpassungen womöglich ebenfalls eingesetzt werden. Wenigstens Restaurantbetreiber:innen hätten dann keinen direkten Zugriff mehr auf die Daten ihrer Gäste.
Corona-Überbrückungshilfe: Offizielles Formular verlinkt auf falsche Website (Heise)
Das Bundeswirtschaftsministeriums hat sich offenbar vertippt. In einem Antragsformular für Corona-Hilfen verweist die Behörde fälschlicherweise auf eine Domain, die zum Verkauf steht, wie Heise berichtet. Der Schreibfehler könnte es Betrüger:innen ermöglichen, die Domain zu registrieren und so an Informationen von Unternehmen zu gelangen.
Jeden Tag bleiben im Chat der Redaktion zahlreiche Links und Themen liegen. Doch die sind viel zu spannend, um sie nicht zu teilen. Deswegen gibt es jetzt die Rubrik „Was vom Tage übrig blieb“, in der die Redakteurinnen und Redakteure gemeinschaftlich solche Links kuratieren und sie unter der Woche um 18 Uhr samt einem aktuellen Ausblick aus unserem Büro veröffentlichen. Wir freuen uns über weitere spannende Links und kurze Beschreibungen der verlinkten Inhalte, die ihr unter dieser Sammlung ergänzen könnt.
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Diversität von Hackathons: Wer ist das „Wir“ in WirVsVirus?
Ilona Stuetz und Victoria Kure-Wu kennen sich als @ilo_ul und @kateboss5000 aus dem Internet. Ilona Stuetz lebt und arbeitet in Österreich und Berlin. Sie beschäftigt sich mit Diversität, Digitalisierung, Kunstvermittlung und Bildung; zuletzt für Projekte wie Jugend hackt, hello world und für die Ars Electronica in Linz. Victoria Kure-Wu ist User Experience Designer in Berlin und weiß, dass diverse Teams zu besseren Ergebnissen kommen. Sie arbeitet aktuell bei interactive tools, ist Initiatorin von www.ichbinkeinvirus.org und engagiert sich für Bildungsgerechtigkeit bei den Schülerpaten Deutschland.
In der Corona-Krise zeigt sich deutlicher denn je, wie wichtig zivilgesellschaftliches Engagement für den Zusammenhalt ist. Menschen gehen für ihre zur Risikogruppe gehörenden Nachbar*innen einkaufen. Vereine organisieren Spenden und weitere Unterstützungsangebote, um anderen durch die Krise zu helfen. Hack- und Makespaces produzierten ehrenamtlich und ohne staatliche Förderung Masken und Schutzschilde für Krankenhäuser, Arztpraxen und Pflegeheime.
Als besonders gelungenes Beispiel des bürgerschaftlichen Engagements in der Pandemie gilt der virtuelle Hackathon, den die Bundesregierung unter dem Namen „WirVsVirus“ ins Leben gerufen hat. Gleich zu Beginn der Krise, im März 2020, lud das Kanzleramt zusammen mit einigen zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Beteiligung auf: Gemeinsam sollten Innovationen gegen das Virus und seine gesellschaftlichen Folgen entwickelt werden. Den besten Projekten winkten finanzielle Förderung und ideelle Unterstützung.
Der größte Hackathon der WeltHackathons haben sich seit der Jahrtausendwende als erfolgreiches Veranstaltungsformat etabliert, um innerhalb eines abgesteckten Zeitraums von meist zwei bis drei Tagen innovative Projekte oder Lösungen zu entwickeln. Waren sie ursprünglich in der Start-Up-Szene beliebt, finden in den letzten Jahren immer mehr Civic-Tech-Hackathons mit gemeinnützigen Zielen statt.
Der Hackathon der Bundesregierung wurde überwiegend als großer Erfolg gefeiert, brachte er doch schnell einige funktionsfähige Anwendungen und Tools hervor, welche die Zivilbevölkerung dabei unterstützen sollen, besser durch die Krise zu kommen. Rund 28.000 Menschen nahmen teil, um an über 1.500 Projekten zu arbeiten. Kanzleramtsminister Helge Braun sprach vom „größten Hackathon, der jemals weltweit durchgeführt wurde“. Mit geballter Kraft gegen das Virus – eine echte Erfolgsgeschichte.
Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Schon während des 3-tägigen Hackathons wurden die Organisator*innen mit Kritik konfrontiert, unter anderem am Bewertungs- und Auswahlprozess der Projekte sowie der mangelnden Diversität der Entscheidungsgremien.
Der blinde Fleck von WirVsVirusIn einem zweistufigen Verfahren sollten die besten Projekte ausgewählt werden: Die 1.500 eingereichten Ideen wurden zunächst nach dem Zehn-Augen-Prinzip von ehrenamtlichen Mentor*innen begutachtet und beurteilt. Die knapp 200 Projekte mit den besten Bewertungen konnten sich dann in der zweiten Phase einer Jury mit kurzen Videos vorstellen. Diese wählte Projekte aus, die seitdem von der Bundesregierung gefördert werden.
Ein Blick in das Handbuch der Organisator*innen zeigt, worauf bei der Konzeption des Prozesses Wert gelegt wurde. Als Auswahlkriterien werden öffentliches Interesse, Innovation, Durchführbarkeit, Fortschritt und Verständlichkeit kommuniziert. Diese Ziele sollten die Kernwerte des Hackathons widerspiegeln und die Eigenschaften der gewünschten Zielgruppe beschreiben: „Interdisziplinarität, Kreativität und Solidarität“.
Ein Blick auf die Zusammensetzung der Entscheider*innen hingegen zeigt, worauf die Veranstalter*innen offensichtlich keinen Wert gelegt haben: Vielfalt nicht nur der Disziplinen, sondern auch der Perspektiven und der Erfahrungen der breiten Zivilgesellschaft. Die Mentor*innen, die über die Vorauswahl entschieden? Fast ausschließlich weiße Menschen. Die 48-köpfige hochkarätige Jury, die die besten Projekte bestimmte? Ausschließlich weiße Menschen.
Unterstützung für Betroffene von RassismusWer also gehört eigentlich zu diesem „Wir“, das eingeladen wurde, sich im Rahmen des Hackathons gegen das Virus zu stellen und sich um eine Förderung der Bundesregierung zu bewerben?
Eines der Projekte, die die erste Hürde der Vorauswahl durch die ehrenamtlichen Mentor*innen nicht schafften, war ichbinkeinvirus.org. Die von Victoria Kure-Wu mitinitiierte Website war als Plattform zur Unterstützung von Menschen gedacht, die im Rahmen der Corona-Krise von Rassismus betroffen sind.
Durch Corona und die Erzählung, dass das Virus aus China stammt, hat sich der Rassismus verstärkt, mit dem süd-/ostasiatisch gelesene Personen in ihrem Alltag in Deutschland schon immer konfrontiert waren. Wurde Asiat*innen bisher oft der Status einer Vorzeigeminderheit von strebsamen Schüler*innen und gewissenhaften Bürger*innen zugeschrieben, sind sie nun die angeblichen Krankheitsträger*innen und Sündenböcke der Pandemie.
Vor allem in der Berichterstattung in den Medien und den dort verwendeten Bildern wird dies gut sichtbar. Kaum eine Coverseite in der nationalen und internationalen Presse kam bisher ohne ein Bild von ostasiatisch gelesenen Menschen im Kontext von Corona aus. Das von der Amadeu Antonio Stiftung betriebene Projekt Belltower.News und korientation e. V., ein Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven, dokumentieren allein in den ersten Wochen der Pandemie dutzende Fälle dieses medialen Coronavirus-Rassismus.
Hinzukommt bis heute eine Vielzahl von Über- und Angriffen. Diese reichen von Beschimpfungen im öffentlichen Raum bis zu physischen Attacken, die es Betroffenen teilweise schwer machen, ihren Alltag im üblichen Ausmaß zu leben. Jeder Schritt vor die Tür ist mit dem Abwägen verbunden, ob man die Kraft hat, mit möglichen Anfeindungen umzugehen.
Fast alle Mitglieder des fünfköpfigen Projektteams von ichbinkeinvirus.org arbeiten hauptberuflich in der Digitalbranche und wissen gleichzeitig aus erster Hand, wie real Corona-spezifischer Rassismus ist, da sie selbst von diesem betroffen sind. Das Projekt sollte anderen Betroffenen helfen, ihre Erfahrungen unabhängig von ihren Deutschkenntnissen auf der Website zu veröffentlichen und so den grassierenden Rassismus sichtbar zu machen. Hilfsangebote, Hinweise auf Beratungsstellen und eine Kontaktvermittlung für gemeinsame Freizeitunternehmungen sollten sie unterstützen und stärken.
Dann lieber doch kein Public VotingAus den 1.500 Projekten des Hackathons war ichbinkeinvirus.org das einzige, das sich mit dem Thema Rassismus befasste. Das Feedback der begutachtenden Mentor*innen aber war, dass sie nicht wirklich beurteilen könnten, ob es weiterhin Corona-spezifischen Rassismus gibt und es deshalb überhaupt eine eigene Plattform dagegen braucht.
Auch eine vielfältiger zusammengesetzte Gutachter*innengruppe wäre selbstverständlich keine Garantie dafür gewesen, dass das Projekt die erste Hürde geschafft hätte. Doch um das Problem des Coronavirus-Rassismus wahrzunehmen, hätte ein Blick auf die Reaktionen gereicht, die bereits das öffentliche Vorstellungsvideo von ichbinkeinvirus.org ausgelöst hat: In den Kommentaren auf YouTube und auf Twitter waren die Projektmitglieder rechtsextremen und rassistischen Anfeindungen ausgesetzt.
Obwohl das Projektteam die Organisator*innen darauf hinwies, dass Rechte via Twitter dazu aufforderten, ihr Vorstellungsvideo im Rahmen des Public Votings zu disliken, erhielt es keine Unterstützung zur Bewältigung der Hasskommentare. Die öffentliche Abstimmung als zweites Bewertungskriterium wurde allerdings noch während des Hackathons zurückgezogen. Nicht jedoch aufgrund der rassistischen Anfeindungen, sondern weil andere Bewerber*innen sehr starke Reichweiten zur Mobilisierung von Likes mitbrachten – das Voting hätte so verzerrt werden können.
Ein Hackathon für alle?Dass der Hackathon der Bundesregierung ein Diversitätsproblem hatte, zeigt sich auch im Umgang mit der Kritik an der weißen Jury. Als sie noch während der Veranstaltung geäußert wurde, antworteten die Organisator*innen damit, marginalisierte Menschen allgemein in einen Topf zu werfen: Da mit Raul Krauthausen ein (weißer) Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit Mitglied der Jury war, sei sichergestellt, dass die Argumente marginalisierter Personen einbezogen würden.
Als Ko-Autorin Victoria Kure-Wu ihre Erfahrungen nach dem Hackathon auf Twitter veröffentlichte, reagierten die Organisator*innen abwehrend. Auch Teile der WirVsVirus-Community und Teilnehmende der Veranstaltung verteidigten den Hackathon als “Veranstaltung für alle”, denn schließlich habe jede*r teilnehmen können. Statt einem Nachdenken über eigene blinde Flecken gab es die Aufforderung, erstmal selbst einen besseren Hackathon zu veranstalten. Der offizielle WirVsVirus-Account reagierte kaum, nur eine der Organisator*innen beteiligte sich mit ihrem Privataccount an der Diskussion.
Erst nachdem die Kritik im Rahmen einer Übernahme des reichweitenstarken Twitter-Accounts des Peng!-Kollektivs mehr Aufmerksamkeit erhielt, sagte das Team des Hackathons Mitte Juni eine offizielle Stellungnahme zu.
Ende Juni, also mehr als drei Monate nach der Veranstaltung, veröffentlichten die Organisator*innen dann ein etwa einseitiges Statement. Darin räumten sie zwar Fehler ein und kündigten Maßnahmen an. Die Stellungnahme wurde jedoch nur in einem Google-Doc veröffentlicht und wenige Tage, bevor die aktive Betreuung der Social-Media-Kanäle eingestellt wurde, einmalig auf Twitter geteilt. Im Newsletter für die Community des Hackathons wurde sie nicht erwähnt. Auf der Website von WirVsVirus ist sie als Link im Sammelbecken des FAQs zum Hackathon vergraben.
Ungleichheit by DesignNicht nur als unmittelbar Betroffene bekommt man bei diesem Vorgehen das Gefühl, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema des strukturellen und institutionalisiertem Rassismus dann doch nicht so groß war. Doch eine ausschließlich weiße Jury ist nur das Symptom eines viel weiter reichenden Problems. Der Umgang mit der Kritik und auch die ausbleibende Unterstützung gegen die öffentlichen Anfeindungen und rassistischen Beschimpfungen, denen das Team von ichbinkeinvirus.org in Folge der Hackathon-Teilnahme bis heute ausgesetzt sind, werfen eine grundlegende Frage auf: Wer ist dieses “Wir“, das eine Gemeinschaft gegen das Andere, das Virus, bildet?
Die Zusammensetzung derjenigen, die an der Entwicklung von Technologien beteiligt sind, hat entscheidenden Einfluss darauf, wie diese wirken. In den Worten des Equity Design Collaborative: “Rassismus und Ungleichheit sind ein Produkt von Design und können daher auch neu designt werden [eigene Übersetzung].“ Wenn sich Hackathons nur auf Technik alleine konzentrieren, lösen sie Probleme nicht nachhaltig. Im besten Fall ist das Ergebnis ein gut gemeintes Produkt, das an der nicht miteinbezogenen Zielgruppe vorbei geht. Im schlimmsten Fall ist es die Reproduktion von Rassismus und anderen Diskriminierungsformen.
Häufig richten sich Tech-Veranstaltungen zwar offiziell an alle, doch selten wird berücksichtigt, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind, um tatsächlich teilzunehmen. Es braucht dafür ein gewisses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die Möglichkeit, tatsächlich gehört zu werden. Außerdem das Selbstbewusstsein, etwas zu einer allgemeinen Lösung beitragen zu können und damit ernstgenommen zu werden. Diese Voraussetzungen sind in der Gesellschaft jedoch extrem ungleich verteilt. Gerade für Nicht-Akademiker*innen und Personen ohne höheren Schulabschluss oder andere marginalisierte Gruppen können sie eine unsichtbare Zugangsbarriere darstellen.
Bei Veranstaltungen im Hackathon-Format wird zudem häufig vor allem die technische Expertise in den Vordergrund gerückt und es wird nur in geringem Ausmaß damit geworben, dass auch sozialwissenschaftliche Expertise oder Design-Fähigkeiten zum Gelingen der Projekte beitragen. So kommt es, dass die Veranstaltungen sich überwiegend aus der Mehrheitsgesellschaft rekrutieren. Oder, um es konkreter zu machen: Mehrere Studien [PDF] belegen, dass die Teilnehmerschaft von Hackathons häufig vor allem weiß und männlich ist.
Gemeinsam die Zukunft gestaltenDas Team von WirVsVirus hat angekündigt, in Zukunft Expert*innen und Betroffene als feste Ansprechpartner*innen für Diversitäts- und Diskriminierungsthemen aufzunehmen und ein Eskalationsmanagement zu etablieren. Langfristig sollen unterrepräsentierte Gruppen bei der Umsetzung des Formats eingebunden werden. Wenn sie wirklich umgesetzt werden, sind das gute erste Schritte. Jedoch ist Beteiligung marginalisierter Menschen auf Augenhöhe bereits ganz zu Anfang, also in der Konzeption von Veranstaltungen und Projekten, der einzige Weg, nicht nur Symptomen, sondern auch Ursachen von strukturellem Rassismus entgegenzuwirken.
Wie Sensibilität für Vielfalt und Diskriminierungen von Anfang mitgedacht und als Wesenselement von Hackathons etabliert werden können, demonstrierte auf der re:publica 2019 die Designerin und Forscherin Alexis Hope. In ihrem Vortrag teilte sie die Erfahrungen, die sie und andere bei der Organisation eines Hackathon am MIT Media Lab gemacht hatten. Der „Make the breast pump not suck“-Hackathon sollte die Technik von Milchpumpen weiterentwickeln, mit denen stillende Personen Milch abpumpen können.
Die Veranstaltung brachte 150 Teilnehmende aus den Bereichen Design und Entwicklung, aber auch Mütter, Väter und Babies auf der Suche nach Lösungen für bessere Still-Instrumente zusammen. Getrieben wurde der Hackathon von der Überzeugung, dass es der Partizipation aller bedarf, um eine Lösung zu entwickeln, die nicht nur der Lebensrealität weniger entspricht. Zu diesem Zweck ging der Veranstaltung eine intensive Recherche voraus, um lokale Initiativen, Selbsthilfegruppen und bereits vorhandene Lösungen zu suchen und mit diesen in Kontakt zu treten, um sie in den Hackathon einzubinden. Speziell auch solche Communities, die im Regelfall wenig Anknüpfungspunkte zu elitären Einrichtungen wie dem MIT haben.
Eine der leitenden Fragen lautete: „Wie können alle Menschen daran teilnehmen, die Zukunft zu gestalten?“ Von wie großer Bedeutung diese Vorarbeit ist, wird deutlich, wenn man die Zusammensetzung der Mitwirkenden betrachtet. Nur 25 Prozent der Teilnehmenden kamen aus dem Tech-Bereich, während weitere 25 Prozent aus dem Bereich Kunst/Design/Kommunikation kamen und sich die restlichen 50 Prozent aus Müttern, Aktivist*innen, Personen aus dem Gesundheitswesen, Studierenden und Lehrenden/Personen aus dem Bildungssektor zusammensetzen. 70 Prozent der Teilnehmenden waren People of Colour und auch die Verteilung hinsichtlich der geographischen Herkunft und Einzugsgebiete war breit gestreut.
Das Ergebnis: Die Teilnehmer*innen entwickelten Lösungen, die so vielfältig waren wie die Teilnehmerschaft. Jedes der Projekte begegnete ganz konkreten Notwendigkeiten der unterschiedlichen Zielgruppen, unter Beachtung der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Statt einfach nur die Technologie der Milchpumpen weiterzuentwickeln, nahmen die Lösungen den jeweiligen Anwendungskontext in den Blick. So entstanden Notfallversorgungskits für stillende Personen in Katastrophengebieten oder eine Virtual-Reality-Anwendung, mit der Behelfs-Stillplätze wie Büros oder Toiletten zu vertrauten Orten werden können, um so das Oxytocin-Level beim Stillen zu erhöhen. Darüber hinaus wurde die Veranstaltung von einem Policy Summit begleitet, um politische Fragen zu adressieren, die während der Arbeit mit den Betroffenen aufkamen und sich nicht durch Technologie lösen lassen.
Diversität darf kein Add-On seinWer Hackathons mit einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung konzipieren möchte, darf Diversität nicht als Add-On sehen. Sie ist eine logische Maßnahme, um überhaupt sinnvolle Lösungen für ein Problem finden zu können, von der alle profitieren. Da Rassismus häufig tief verankert und institutionalisiert ist, können Diversitätsfragen nicht erst im Nachhinein passieren. Auf diese Weise werden sie niemals den Kern des Problems treffen.
Wer unter dem „Wir“ von „WirVsVirus“ also nicht nur die Mehrheitsgesellschaft, sondern unsere Gesellschaft inklusive ihrer an den Rand gedrängten Gruppen versteht, muss die eigenen obersten Strukturen aufbrechen und marginalisierte Menschen mitbestimmen lassen.
ichbinkeinvirus.org ist inzwischen trotzdem online, auch wenn die Plattform von der Bundesregierung nicht gefördert wurde. Ehrenamtliche haben die Seite in ihrer Freizeit umgesetzt, Ende Mai 2020 ist sie live gegangen. In kurzer Zeit ist sie ein wichtiger Vernetzungspunkt für Betroffene von Corona-Rassismus, Hilfsangeboten und Aktivist*innen geworden. Trotz internationaler Medienberichte über das Angebot: Die ursprüngliche Vision eines internationalen Angebots zur weltweiten Hilfe für Betroffene konnte ohne die Förderung bisher nicht realisiert werden.
Da die wirtschaftlichen Folgen von Corona noch nicht vollständig angekommen sind, ist davon auszugehen, dass Corona-Rassismus weiterhin grassieren wird. Dass bis heute doppelt so viele rechte Anfeindungen über das Formular für Betroffene eingegangen sind wie tatsächliche Erfahrungsberichte, unterstreicht die Bedeutung des Projektes.
Epilog: Nach dem Verfassen (und vor dem Veröffentlichen) dieses Artikels gab es Anfang August ein Telefonat zwischen den Organisator*innen des Hackathons und dem Projektteam von ichbinkeinvirus.org. Zunächst entschuldigten sich die Vertreter*innen von WirVsVirus für den Kommentar, dass die Perspektive aller marginalisierten Gruppen in der Jury bereits durch einen Inklusions-Aktivisten vertreten sei. Außerdem kündigten sie an, dass die von der Bundesregierung finanzierten Programme Tech4Germany und Prototype Fund künftig stärker auf Diversität achten würden. Zudem sei am Impact Hub Berlin nun ein Inkubatorprogramm gestartet, dass das Thema Diversität ins Visier nimmt. Der Bitte des Teams von ichbinkeinvirus.org um Unterstützung bei der Verarbeitung rechter Anfeindungen infolge des Hackathons erteilten sie eine Absage. Das Team bleibt mit dem Gefühl zurück, mit den Konsequenzen ihrer Hackathon-Teilnahme alleine dazustehen und obendrein kostenlose Diversity-Beratung geleistet zu haben.
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N26: Eine Bank gegen fast alle Werte, an die wir glauben
Die Führungsriege der Online-Bank N26 hat unter fadenscheinigen Gründen, nämlich über Hygienebestimmungen und eine einstweilige Verfügung versucht, die Gründung eines Betriebsrates im Unternehmen zu verhindern. Gleichzeitig meldete sich die Führung gegenüber ihren Mitarbeiter:innen mit der bemerkenswerten Aussage zu Wort, die Betriebsratsgründung stünde „gegen fast alle Werte, an die wir bei N26 glauben“. Die Betriebsratsgründung würde zudem das Unternehmen hierarchischer machen.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Mitbestimmung der Angestellten macht das Unternehmen hierarchischer. Sagen die Chefs dieses Unternehmens, die gerade versuchen, Mitbestimmung zu verhindern. Man muss wirklich zu lange im Buzzword-Nebel der Start-up-Szene verbracht haben, um dieses Balla-Balla-Gewäsch von angeblich flachen Hierarchien selber noch zu glauben.
N26 ist kein kleines, nettes Hinterhof-Start-up, sondern hat 1.500 Mitarbeiter:innen weltweit. Investoren wie Peter Thiel oder der chinesische Tech-Konzern Tencent hängen mit Millionenbeträgen bei der Direktbank drin. Da kann man nicht mehr mit der abgeschmackten Leier vom tollen Kicker, bunten Konferenzräumen, ein paar kostenlosen Bio-Müsliriegeln, der Barista-Espressomaschine oder sonstigen ganz, ganz großartigen Incentives als Blendwerk ankommen.
Die Mitarbeiter:innen von N26 berichten von Angst vor der Nichtverlängerung befristeter Arbeitsverträge, hohem Arbeitsdruck und Löhnen, die individuell und intransparent sind. Da passt es natürlich, dass mit allen Registern gegen die Betriebsratsgründung gekämpft wird.
Extra noch eine Gegenveranstaltung angesetztMit einem Trick ist es gelungen, die heutige Einberufung des Wahlvorstandes zur Gründung des Betriebsrates durchzuführen. In letzter Minute hatte die Führung von N26 zeitgleich noch ein Kick-Off-Meeting für eine „alternative Mitarbeitervertretung“ angesetzt, um die Organisation des Betriebsrates zu behindern und die Belegschaft zu spalten. Was für nette Arbeitgeber diese Gründer doch sind!
Nun ist die Bank, die sich selbst als „Die Bank, die du lieben wirst“ verkauft, auch auf anderen Feldern als der Mitarbeiter:innenbestimmung ganz und gar nicht liebenswürdig. Beim Chaos Communication Congress 2016 zeigten Sicherheitsforscher, wie unsicher die App von N26 damals war und es gibt auch Berichte über einen schlechten Support, der auch schonmal Menschen über Wochen hängen lässt.
Am Freitag werden Mitarbeiter:innen einer weiteren GmbH von N26 ihren Wahlvorstand wählen können. Einem Betriebsrat steht dann nichts mehr im Wege. Was bleibt, ist der schale Geschmack eines weiteren Unternehmens, das demokratische Werte und soziale Errungenschaften mit den Füßen tritt.
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Sinkende Einnahmen durch Corona-Pandemie: Mozilla entlässt 250 Mitarbeiter:innen
Die Mozilla Corporation hat in dieser Woche rund 250 Mitarbeiter:innen entlassen. Das entspricht einem Viertel der Belegschaft. Die Entlassungen gingen mit weitreichenden Umstrukturierungen einher, wie CEO Mitchell Baker auf der Website des Unternehmens mitteilte. Zuvor hatte sie die Mitarbeiter:innen in einer internen E-Mail informiert. Darin teilte sie ebenfalls mit, dass der Standort in Taipei (Taiwan) komplett geschlossen wird und zusätzlich 60 Mitarbeiter:innen in andere Teams versetzt werden.
Mozilla, bekannt vor allem durch seinen freien Webbrowser Firefox und den Mail-Client Thunderbird, hatte bereits im Januar 70 Mitarbeiter:innen entlassen. Schon zu diesem Zeitpunkt stand es schlecht um die Einnahmen. Mitchell Baker begründet die umfangreichen Kündigungen nun maßgeblich mit der schlechten wirtschaftlichen Lage durch die Coronavirus-Pandemie. Diese habe sich „massiv“ auf die Einkünfte des Unternehmens ausgewirkt.
Die Stellenstreichungen beziehen sich auf das globale Unternehmen, teilt Mozilla auf Anfrage mit. Genaue Angaben zu den einzelnen Standorten wolle man zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht machen. Mozilla betreibt auch ein Büro in Berlin-Kreuzberg mit rund 50 Mitarbeiter:innen. Der Arbeitnehmervertretung Berlin Tech Workers Coalition sind bislang mindestens zwei bestätigte Kündigungsfälle am Berliner Standort bekannt, wie sie gegenüber netzpolitik.org mitteilte.
Stärkerer Fokus auf Produkten, Community und FinanzierungDie Umstrukturierungen bei Mozilla betreffen zum einen die Verkleinerung und Organisation des globalen Teams. „Wir werden mehr experimentieren und uns schneller an Gegebenheiten anpassen“, schreibt Mitchell Baker in ihrem Blogbeitrag. „Wir werden uns öfter mit Verbündeten außerhalb unserer Organisation zusammentun und dabei effektiver sein.“ Zum anderen rückt sie die Entwicklung neuer Produkte und die Wirtschaftlichkeit von Mozilla stärker in den Fokus. Um erfolgreiche Produkte zu schaffen, müsse man sich stärker mit Menschen außerhalb der eigenen Organisation austauschen. Außerdem sei eine Rückbesinnung auf Technologie wichtig: „Mozilla kann als ‚technisches Powerhouse‘ innerhalb der aktivistischen Internetbewegung gesehen werden. Und genau das müssen wir auch bleiben.“
In dem Statement wird aber auch deutlich, dass Mozilla auf neue Finanzierungsmodelle angewiesen ist. „Wir müssen verschiedene Wege identifizieren, um uns selbst zu finanzieren und ein Business aufzubauen, das sich von dem heutigen abhebt“, heißt es dort. Das könnte bedeuten, dass das Unternehmen seine Produkte künftig zum Teil nicht mehr kostenlos anbieten wird.
Auf einen Finanzposten kann sich das Unternehmen indes offensichtlich verlassen: Mozilla und Google werden voraussichtlich ihren Vertrag verlängern, wonach Google die Standardsuchmaschine im Firefox Browser bleibt, wie ZDnet mit Berufung auf mehrere Quellen berichtet. Der Vertrag soll bis 2023 gelten. Google macht dafür geschätzt 400 bis 450 Millionen US-Dollar locker.
Kritik und Gerüchte um EntlassungenDie Entlassungen kamen für Teile der Mozilla-Belegschaft und viele Angehörige der Tech-Branche offenbar wie ein Schock. Unter dem Hashtag #MozillaLifeboat äußerten sich Betroffene, die nun auf Jobsuche sind, und andere Tech-Konzerne teilten ihre Stellenanzeigen.
Schnell verbreiteten sich auf Twitter auch Nachrichten darüber, welche Teams die Kündigungen besonders hart getroffen haben. Dem Gerücht, wonach das gesamte Sicherheitsteam entlassen worden sei, widerspricht Mozilla gegenüber netzpolitik.org:
Mozilla hat seine Sicherheitsfunktionen neu strukturiert, um die Sicherheit von Mozilla und seinen Nutzer:innen besser zu gewährleisten. Einige Positionen wurden aufgrund dieser Bemühungen beseitigt, aber die Teams, die für die Sicherheit des Firefox Browsers und der Firefox-Dienste verantwortlich sind, waren davon nicht betroffen. (eigene Übersetzung)
Weitere Gerüchte drehten sich um Entlassungen in den Abteilungen des Mozilla Development Network (MDN) und der Software Servo, die Mozilla mit Samsung entwickelt hat. Demnach wurde fast das gesamte Servo-Team aufgelöst. Einige Twitter-Nutzer:innen fragen sich nun, wie Mozilla seinen Firefox Browser für die nächste Generation mobiler Endgeräte fit machen will.
As I pointed out yesterday, without Firefox Servo – developed in corporation with Samsung, #Mozilla will not get #Firefox on mobile devices, …
…and eventually not on the next generation of Apple devices either. ^ https://t.co/RipjzishNR
— Herzmut ???? (@scherzmut) August 13, 2020
Auf unsere Frage nach Servo geht Mozilla nicht ein. Während einige Twitter-Nutzer:innen schon das Ende von MDN, einer Dokumentation von Open-Web-Technologien wie HTML, CSS und APIs, voraussehen, widerspricht Mozilla:
MDN als Website geht momentan nirgendwohin. Das Team ist kleiner, aber die Website existiert und verschwindet nicht. Wir werden mit Partner:innen und Community-Mitgliedern zusammenarbeiten, um die richtigen Wege zu finden, die Seite angesichts unserer neuen Struktur voranzutreiben.(eigene Übersetzung)
Nicht alle in der Twitter-Community überzeugte das. Einige Nutzer:innen kritisierten die massiven Einsparungen zugunsten einer besseren Wirtschaftlichkeit.
As both an ideological user of Firefox and a happy user of their devtools, this saddens me greatly. Before this, I had faith in @mozilla to do the right thing for a better Internet even if it wasn't the most profitable thing to do. Clearly I was wrong. #mozillalayoffs https://t.co/TlEDxN4TGY
— Mitja Karhusaari (@dogamak) August 12, 2020
Profitabel zu handeln sei nicht die Idee hinter Mozilla als Wegbereiterin für ein offenes, sicheres Internet gewesen, so das Urteil dieses Twitter-Nutzers.
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Was vom Tage übrig blieb: Tönnies-Listen, TikTok-Schnüffeleien und Tolle-Filme
Datenschutz muss zurückstehen: Tönnies-Adressliste – keine Maßnahmen gegen Ministerium (t-online.de)
Nach dem Corona-Ausbruch im Schlachthof Tönnies im Juni ließ Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) Adressen von 7.400 Beschäftigten an Hunderte Pflegeeinrichtungen schicken, verteilt auf drei Regierungsbezirke, wie t-online.de berichtet. Zwar wurden die Namen der Betroffenen vor der Weitergabe entfernt, wie aus dem Erlass hervorgeht, den FragDenStaat veröffentlichte. Angeblich geschah dies „aus Gründen des Datenschutzes“, wie es in dem Dokument heißt. Dennoch waren Rückschlüsse auf die Identität der Tönnies-Mitarbeiter:innen möglich. Datenschützer:innen hatten die Schutzmaßnahme als unverhältnismäßig kritisiert. Der Landesdatenschutzbeauftragte hält den Vorgang jedoch offenbar für rechtmäßig.
TikTok Tracked User Data Using Tactic Banned by Google (Wall Street Journal)
Schon wieder schlechte News für TikTok: Die App soll mehr als ein Jahr lang die MAC-Adressen seiner Nutzer:innen mit Android-Smartphones gesammelt haben – obwohl das klar gegen die Regeln von Google verstößt. Das hat das Wall Street Journal entdeckt, als es die vergangenen Versionen der App unter die Lupe genommen hat. Mindestens 15 Monate lang soll TikTok demnach die MAC-Adressen gesammelt haben, ohne dass Nutzer:innen dies wussten. Mit dem Update im November soll TikTok die Praxis beendet haben – just zu dem Zeitpunkt also, als die App in den USA in den Fokus rückte. Sicher nur ein Zufall.
AI Magic Makes Century-Old Films Look New (Wired)
Als Ende des 19ten Jahrhunderts die Gebrüder Lumière das erste Mal die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat vorführten, sollen die Zuschauer in Panik ausgebrochen sein. Zu realistisch sollen die holprigen 50 Sekunden auf die geneigte Zuseherschaft gewirkt haben, die fluchtartig den Raum verlassen haben sollen. Zwar dürfte es sich bei dieser legendären Anekdote um eine moderne Sage handeln, der frühe Film bleibt aber dennoch bis heute beeindruckend. Nun gibt es ihn in einer geschmeidig sanften Variante, die auf eine 4K-Auflösung mit 60 Frames pro Sekunde hochgerechnet wurde. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz und sonstiger Werkzeuge hat Denis Shiryaev diesen und andere Filme aus grauer Urzeit aufgemöbelt und ins Internet gestellt. Auf seinem Youtube-Kanal finden sich unter anderem modernisierte Aufnahmen aus dem Wuppertal des Jahres 1902, Straßenaufnahmen aus San Francisco vor dem großen Erdbeben und Feuer 1906 oder ein Rundgang durch Amsterdam im Jahr 1922.
Jeden Tag bleiben im Chat der Redaktion zahlreiche Links und Themen liegen. Doch die sind viel zu spannend, um sie nicht zu teilen. Deswegen gibt es jetzt die Rubrik „Was vom Tage übrig blieb“, in der die Redakteurinnen und Redakteure gemeinschaftlich solche Links kuratieren und sie unter der Woche um 18 Uhr samt einem aktuellen Ausblick aus unserem Büro veröffentlichen. Wir freuen uns über weitere spannende Links und kurze Beschreibungen der verlinkten Inhalte, die ihr unter dieser Sammlung ergänzen könnt.
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Unberechtigte Datenabfragen: Datenschützerin wirft Berliner Polizei vor, Aufklärung zu verweigern
Maja Smoltczyk erhebt schwere Vorwürfe gegen die Berliner Polizei. In einem erneuten Fall möglicherweise missbräuchlicher Datenabfragen durch einen Polizisten verweigere ihr die Behörde die Zusammenarbeit, kritisiert die Landesdatenschutzbeauftragte Berlins. Smoltczyk spricht deshalb eine Beanstandung aus und kündigte in einer Pressemitteilung [PDF] an, den Fall notfalls vor das Abgeordnetenhaus zu bringen.
Hintergrund ist der Datenschutzbehörde zufolge eine Drohung mit mutmaßlich rechtsextremem Hintergrund. Eine Person, die bereits in der Vergangenheit rechtsextremer Gewalt ausgesetzt war, hatte eine Morddrohung in Form einer Schmiererei an der Wand ihres Wohnhauses erhalten. Dort stand: „9mm für [Name der betroffenen und weiterer Personen]. Kopfschuss“.
Die Person hatte sich an die Datenschutzbehörde gewandt und so eine Untersuchung ausgelöst. Im Zuge der Nachforschungen fragte die Datenschutzbehörde bei der Polizei an, ob persönliche Informationen der bedrohten Menschen in zeitlichem Zusammenhang mit der Tat aus Polizeidatenbanken abgerufen wurden. Smoltczyk zufolge bestätigte die Polizei mehrere Zugriffe auf die Daten zweier Betroffener, konnte jedoch nur in einem der Fälle einen dienstlichen Grund nachvollziehbar machen.
Politische BrisanzAls die Datenschutzaufsicht nachhakte, soll sich die Polizeibehörde geweigert haben, die anderen Datenbankzugriffe zu begründen. Auch ein Brief an die Polizeipräsidentin Barbara Slowik, in dem Smoltzyk auf die politische Brisanz des Falles aufmerksam machte, habe nichts bewirkt.
Seitdem immer mehr Fälle öffentlich bekannt werden, in denen Menschen rassistische und rechtsextreme Drohbriefe auf privaten Kanälen erhalten haben, nachdem ihre Kontaktdaten von Polizeicomputern abgefragt wurden, gibt es eine Diskussion über rechtsextreme Netzwerke in der Polizei und die mangelhafte Kontrolle des polizeilichen Datenwesens. Auch die Berliner Polizei machte bereits Schlagzeilen, weil ein Polizist erwiesenermaßen Informationen über linke Aktivist:innen aus Polizeidatenbanken sammelte und ihnen dann Drohbriefe zukommen ließ.
Smoltczyk bezeichnet das Verhalten der Polizei in diesem Kontext als „äußerst irritierend“ und kündigte an, den Vorgang dem zuständigen Ausschuss des Abgeordnetenhauses vorzulegen, falls auch die Beanstandung ignoriert werde:
Die Berliner Polizeibehörde offenbart durch die hartnäckige Verweigerung ihrer Mitwirkung ein bedenkliches Rechtsverständnis. Die lückenlose Aufklärung der vorliegenden sowie vergleichbarer Bedrohungen liegt auch im Interesse von Polizeibehörden, die derzeit aufgrund der sich häufenden Fälle von unrechtmäßigen Datenabfragen und Kontakten zum rechtsextremen Spektrum im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Alle öffentlichen Stellen des Landes Berlin sind verpflichtet, mit meiner Behörde als Aufsichtsbehörde für den Datenschutz zusammenzuarbeiten. Sollte sich eine Stelle diesen Pflichten so vehement entziehen, wie es vorliegend der Fall ist, muss dies auch politisch thematisiert werden.
Kuriose BegründungDie Berliner Polizei konnte bis zum Erscheinen dieses Artikels noch nicht zu den Vorwürfen Stellung nehmen, kündigte jedoch für den Donnerstagabend ein Statement an.
Kurios ist die Begründung, mit der die Polizei weitere Auskünfte verweigert haben soll. Der Datenschutzbehörde zufolge verwies die Polizei auf das Zeugnisverweigerungsrecht des betroffenen Beamten und meldete Zweifel an der Qualität der Datenschutzbeschwerde der betroffenen Person an. Beides sind laut Smoltczyk keine legitimen Gründe, um die im Berliner Datenschutzgesetz vorgesehene Kooperation der Polizei mit der Aufsichtsbehörde zu verweigern.
Wie netzpolitik.org berichtete, können Berliner Polizist:innen auf insgesamt mehr als 130 Datenbanken zugreifen und so eine sehr große Bandbreite persönlicher Informationen über Menschen in Erfahrung bringen. Dabei kommt es immer wieder zu Datenschutzverstößen. Neben dem bereits erwähnten Fall der missbräuchlichen Verwendung für Drohbriefe machte die Polizei erst Ende 2019 Schlagzeilen, weil sie seit Jahren keine Daten mehr gelöscht hatte. Auch damals sprach Smoltczyk eine Beanstandung aus.
Anders als in den Vorgaben der EU zum behördlichen Datenschutz vorgesehen, hat die Aufsichtsbehörde in Berlin keinerlei Mittel zur Verfügung, direkt auf die Polizei einzuwirken. Die rot-rot-grüne Regierung hatte bei der Überarbeitung des Datenschutzgesetzes 2018 darauf verzichtet, der Datenschutzaufsicht auch direkte Anordnungen gegenüber staatlichen Stellen zu ermöglichen. Die Beanstandung ist somit das schärfste Schwert, das der Berliner Datenschutzbeauftragten zur Verfügung steht.
Update, 14.8.2020: Die Polizeibehörde hat in der Zwischenzeit eine Stellungnahme veröffentlicht. Darin weist sie den Vorwurf mangelnder Kooperation zurück und spricht von unterschiedlichen Rechtsauffassungen. Die erklärenden Abschnitte geben wir hier ungekürzt wieder:
Die in Rede stehenden Abfragen wurden standardgemäß systembedingt protokolliert, die entsprechenden Auswertungen der Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt. Aus der Protokollierung lässt sich – entgegen der Annahme der Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit – die Plausibilität und eine erste Begründung des Zugriffs ableiten, die Rechtmäßigkeit abschließend jedoch nicht. Um die genaue Begründung für die Abfrage in Erfahrung zu bringen, sind weitergehende Ermittlungen erforderlich. Dazu bedarf es eines konkreten Verdachts einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat, auf dessen Grundlage wiederum ein entsprechendes Verfahren einzuleiten wäre.
Das für Beamtendelikte zuständige Dezernat des Landeskriminalamtes konnte keine Anhalte für eine unbefugte Datenverarbeitung feststellen, daher wurde die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit um eine rechtliche Einordnung des Sachverhalts als Ordnungswidrigkeit oder Straftat gebeten. Da sich ihre Anfrage jedoch auf einer Vermutung begründete, weigerte sie sich den erforderlichen Anfangsverdacht zu erklären und ein Verfahren einzuleiten bzw. einleiten zu lassen. Trotz dessen sollten weitere Ermittlungen angestellt werden. In einem Rechtsstaat verbietet sich jedoch eine solche Vorgehensweise.
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Biometrie: US-Sammelklage wirft Instagram illegale Gesichtserkennung vor
Auf die Fotoplattform Instagram könnte eine dicke Geldstrafe zukommen. Das zu Facebook gehörende soziale Netzwerk soll rechtswidrig die biometrischen Daten der über 100 Millionen US-Nutzer:innen gesammelt, ausgewertet und damit Geld verdient haben.
Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet, wirft eine am Montag eingereichte Sammelklage der Fotoplattform vor, gegen das Datenschutzgesetz im US-Bundesstaat Illinois verstoßen zu haben. Dieses verbietet das unautorisierte Sammeln biometrischer Daten. Pro Verstoß würden bis zu 1.000 US-Dollar fällig, im Falle einer bewussten Irreführung könnte der Betrag auf 5.000 Dollar pro Verstoß ansteigen.
Der Klage zufolge nutzen Instagram sowie Facebook die biometrischen Daten für automatische Gesichtserkennung. Demnach scanne die Plattform alle hochgeladenen Bilder, um darauf abgebildete Menschen wiederzuerkennen. Dies soll Nutzer:innen dabei helfen, Freund:innen und Bekannte in Fotos zu finden und zu markieren.
Zwar verweist die Instagram-Datenschutzrichtlinie auf die Funktion und beteuert, vor einer Aktivierung darüber vorab informieren zu wollen. Dies sei in Illinois jedoch unterblieben, behauptet die Klägerin Kelly Whalen.
Verstöße könnten Facebook teuer zu stehen kommenErst im Juni hatte sich die Instagram-Mutter Facebook bereit erklärt, 650 Millionen US-Dollar in die Hand zu nehmen, um ein ähnlich gelagertes Verfahren außergerichtlich zu klären. Eine aus dem Jahr 2015 stammende Sammelklage berief sich ebenfalls auf das Datenschutzgesetz aus Illinois.
Facebook wies zwar damals – wie heute – alle Vorwürfe von sich, wollte aber unbedingt einem vollen Gerichtsverfahren aus dem Weg gehen. Wäre es zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen, hätte das Strafmaß bis zu 47 Milliarden US-Dollar ausmachen können.
Einem zuvor eingebrachten Angebot Facebooks, die Kläger:innen mit 550 Millionen Dollar abzuspeisen, verweigerte sich der Richter. Ihm zufolge käme die Summe einem Rabatt von 99 Prozent gleich. Dem letzten Vergleichsangebot hat der Richter noch nicht zugestimmt.
In Europa hatte Facebook bereits 2012, nach heftigen Protesten von Datenschutzbehörden, seine Gesichtserkennungsfunktion zwischenzeitlich ausgesetzt, sie im Jahr 2019 aber wieder eingeführt. Die Funktion lässt sich in den Einstellungen deaktivieren und soll, zumindest in Europa, der Datenschutzgrundverordnung genügen.
Facebook wehrt sich gegen DrittanbieterGegen Drittanbieter, die auf die von Facebook und seinen Töchtern gesammelten Daten zugreifen wollen, geht der Konzern freilich mit voller Härte vor. „Informationen von Menschen auf Instagram zu scrapen, ist eine klare Verletzung unseres Policy und ein Missbrauch unserer Plattform“, teilte uns etwa eine Sprecherin jüngst mit.
Die Suchmaschine PimEyes hatte die biometrischen Daten von gut 900 Millionen Gesichtsaufnahmen aus dem Internet, darunter Instagram und Youtube, in eine Datenbank gepackt und sie durchsuchbar gemacht. Gegen die Verletzung der Nutzungsbedingungen geht Facebook nun juristisch vor: „Wir haben eine Abmahnung mit Unterlassungsaufforderung verschickt, auf keine Daten, Bilder oder Fotos von unseren Diensten zuzugreifen“, sagte die Sprecherin.
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Rassismus: Bundestags-Petition fordert Studie zu Racial Profiling bei der Polizei
Eine Petition beim Bundestag fordert, dass eine Studie zum „Racial Profiling“ bei den Polizeibehörden des Bundes und der Bundesländer durchgeführt wird. Die Eingabe hat schon gut 15.000 Stimmen gesammelt, noch 35.000 fehlen, damit sie das Quorum knackt. Dann würde das Thema im Petitionsausschuss des Bundestages behandelt. Online mitgezeichnet werden kann die Petition noch bis zum 20. August.
Seitdem die Black-Lives-Matter-Proteste auch in Deutschland viele Menschen auf die Straße gebracht haben, steht die Polizei hierzulande stärker als zuvor wegen institutionellem Rassismus in der Kritik. Hinzu kommen rechte Netzwerke in der Polizei wie in Hessen und Vorfälle wie in Berlin, in den Polizeibeamte Ausländer zusammenschlagen.
Als Racial Profiling bezeichnet man ein von äußeren Merkmalen und rassistischen Stereotypen geleitetes Polizeihandeln, welches sich nicht auf konkrete Verdachtsmomente stützt. Zahlreiche Betroffene berichten von einer Andersbehandlung durch die Polizei, von Schikanen und Verdächtigungen. Es handelt sich um eine menschenrechtswidrige Praxis. Für die weiße Mehrheitsgesellschaft ist diese Form von Diskriminierung und Ungleichbehandlung oft nicht sichtbar, weil sie diese nicht selbst erleiden muss.
Breites Unverständnis geerntetHorst Seehofer hatte eine im Juni von der Bundesregierung angekündigte Studie zu Racial Profiling bei der Polizei im Juli wieder abgesagt. Er begründete die Absage damit, dass Racial Profiling ja verboten sei. Seehofers Entscheidung hatte für Unverständnis gesorgt, nicht nur beim Koalitionspartner, sondern auch bei einigen Landesinnenministern. Eine solche Studie zum Racial Profiling findet bis in die Polizeigewerkschaften hinein Zustimmung.
Die Petition ist der Versuch, das Thema noch einmal in den Bundestag zu bringen und Druck auf den Bundesinnenminister auszuüben.
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Polizei und soziale Medien: Das dürfen Berliner Polizisten privat im Netz
Die Berliner Polizei hat seit August eine neue Social-Media-Richtlinie. Die als „Merkblatt zur Nutzung sozialer Medien“ veröffentlichten Richtlinien geben Polizeibeamt:innen Hinweise für die Nutzung von Twitter, Facebook, Instagram und Co.
Solche Guidelines sind bei Unternehmen, Stiftungen und Behörden mittlerweile an der Tagesordnung. Sie regeln den Umgang mit privaten oder geschäftlichen Social-Media-Accounts und sollen die jeweilige Institution vor Ungemach schützen. Die nun veröffentlichten Regeln der Berliner Polizei richten sich an deren Mitarbeiter:innen und deren privaten Umgang im Netz. Für die behördlichen Accounts gelten nach Expertenmeinung weitaus strengere Maßstäbe und andere Regeln.
Begründet wird die Notwendigkeit der Guidelines (PDF) damit, dass die Nutzung sozialer Medien „im Einzelfall beträchtliche öffentliche Reaktionen“ erzeugen könne, die negative Auswirkungen auf den Account-Inhaber, Dritte, die Berliner Polizei oder die Polizei allgemein haben könnten. Damit räumt die Polizei ihrer eigenen Reputation einen sehr hohen Stellenwert in den Guidelines ein.
Richtlinien gelten auch für private ChatsGelten sollen die Guidelines nicht nur für öffentlich sichtbare Accounts auf Twitter oder Instagram, sondern auch für private Chats und Messengergruppen. Auch sei es egal, ob eine Person einen Polizeibezug herstelle oder nicht, da dieser durch Dritte jederzeit hergestellt werden könnte.
Gleich im ersten Punkt werden die Beamt:innen darauf hingewiesen, dass ihre Postings straf-, zivil- und disziplinarrechtliche Folgen haben können. Dann wird an die Verantwortung appelliert und zum respektvollen Umgang in Diskussionen aufgerufen. Beamt:innen sollen auch Likes und dem Teilen von Inhalten „besondere Achtsamkeit“ schenken.
Private Social-Media-Aktivitäten sollen die Polizist:innen nicht über Dienstgeräte ausüben und private Accounts dürfen nicht für Ermittlungen genutzt werden.
Diese Checkliste sollen die Polizist:innen vor Veröffentlichung eines Beitrages im Kopf haben. Alle Rechte vorbehalten Polizei BerlinIn einem zweiten Teil werden Vorgaben gemacht, wenn im Account eine Polizeizugehörigkeit erkennbar ist. In diesem Fall sollen die Accounts als „privat“ gekennzeichnet werden. Gleichzeitig wird den Beamt:innen die Nutzung des nun offiziellen Hashtags „#PolizeiBerlin“ ans Herz gelegt mit dem Wunsch „gemeinsam ein vielseitiges Bild“ der Behörde zu erzeugen. Darüber hinaus sollen die Polizist:innen keine dienstinternen Informationen, Aufnahmen von Tatorten oder Versammlungen veröffentlichen. Auf Fotos sollen sie auch prüfen, was im Hintergrund zu sehen ist.
Die Beamt:innen sollen „gern den Dialog mit ihrer Community“ pflegen, aber grundsätzlich alles als privat kennzeichnen und bei „konkreten Fragen“ auf die zuständigen Dienstbereiche und offiziellen Accounts verweisen. Journalistische Anfragen sollen immer mit der zuständigen Pressestelle besprochen werden.
Selbst die künstliche Erhöhung der eigenen Reichweite ist geregelt: Weil Glaubwürdigkeit und Seriösität das öffentliche Bild von Polizeiangehörigen prägen soll, sollen sie sich keine Follower kaufen, auch nicht für private Accounts. Werbung machen ist grundsätzlich erlaubt, aber nicht für Genuss- und Suchtmittel, Waffen oder Uniformen.
Instacops werden gesondert untersuchtGanz unabhängig von den Social-Media-Guidelines macht sich die Berliner Polizei auch Gedanken, wie sie mit Influencern in ihrer Behörde umgehen soll. Die interne Revision soll eine „Sonderprüfung Influencer“ erarbeiten, berichtet die Berliner Boulevardzeitung B.Z. Das betrifft unter anderem die „Instacops“ wie Lana Glam oder Melos Vanellope, denen teilweise Zehntausende auf Instagram folgen und die neben Fotos in Insta-Posen auch Bilder in Uniform posten.
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Was vom Tage übrig blieb: Rückrufe, Regeln und Reformen
Sicherheitslücke ermöglicht Abhören von Mobilfunkanrufen (Ruhr-Universität Bochum)
Forschende an der Ruhr-Uni Bochum haben Sicherheitslücken bei Basisstationen mancher Hersteller gefunden. Dadurch konnten sie Telefonat mithören, die über Voice-over-LTE geführt wurden, wenn sie in derselben Funkzelle wie die Zielperson waren. Dafür mussten sie das Zielhandy „kurz nach dem abzuhörenden Anruf“ selbst anrufen, heißt es in der Pressemitteilung der Universität. Die Hersteller der Basisstationen wurden informiert, „die Schwachstelle sollte weitestgehend behoben sein“.
Facebook verbannt „Zwarte Piet“ von Plattformen (Spiegel Online)
Facebook will mit neuen Hausregeln gegen rassistische und antisemitische Stereotype auf seiner Plattform vorgehen. Darunter fällt auch der sogenannte „Zwarte Piet“, der laut niederländischer Erzählung Helfer des Nikolaus sein soll und meist mit Blackface dargestellt wird. Generell will das soziale Netzwerk den Umgang mit politischen Nachrichtenseiten ändern, wie sich aus einem Bericht zu Community-Regeln ablesen lässt.
Ein modernes Urheberrecht (freiheit.org)
Nach der Reform ist vor der Reform. Während Deutschland noch berät, wie sich denn nun die EU-Urheberrechtsreform am besten umsetzen lässt, haben Philipp Otto, Lukas Daniel Klausner und netzpolitik.org-Autor Leonhard Dobusch eine umfangreiche Analyse des Status quo verfasst. Dabei geht es nicht nur um die aktuellen Reformbemühungen, zur Sprache kommt auch ein ausführlicher Future Check, um im Jahr 2030 zu einem besseren Urheberrecht als heute zu kommen. Das knapp 50-seitige Papier steht unter einer CC-Lizenz und ist im Auftrag der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung erstellt worden.
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Desinformationen: Twitter kennzeichnet russische und chinesische Staatsmedien
Seit Donnerstag sind zahlreiche russische und chinesische Nachrichtenseiten auf Twitter mit einem Hinweis für „staatsnahe Medien“ versehen. Der Hinweis soll Nutzer:innen dabei helfen, zwischen freier Presse und Staatsmedien zu unterscheiden.
Die Tweets von Medien wie Russia Today und China Daily werden ab sofort nicht mehr vom Algorithmus empfohlen, was ihre Reichweite erheblich drosseln dürfte. Neben den Staatsmedien wurden auch die Profile von einigen Journalist:innen, Diplomat:innen und Regierungsmitgliedern von Ländern aus dem UN-Sicherheitsrat als solche gekennzeichnet.
Chinesische und russische Staatsmedien im VisierUnter den Nachrichtenseiten wurden offenbar bisher ausschließlich chinesische und russische Staatsmedien markiert. Twitter begründet das damit, dass zu Beginn nur Medien mit Verbindung zu einem der fünf Länder aus dem UN-Sicherheitsrat – China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA – geprüft worden seien. Zukünftig würden auch Staatsmedien anderer Länder kenntlich gemacht.
Der chinesische Fernsehsender CGTN, einer der größten Staatsmedien, reagierte mit Kritik und wirft Twitter „doppelte Standards“ vor. Auch in Großbritannien und den USA gäbe es staatlich finanzierte Medien, etwa die BBC und NPR.
Twitter erklärt in einem Blogpost, dass nur solche Medien gekennzeichnet würden, deren redaktionelle Unabhängigkeit von der Regierung eingeschränkt sei. Deshalb würden beispielsweise Nachrichtenseiten, die auf Gelder aus der Regierung angewiesen seien eher darunter fallen als solche, die über Steuergeldern finanziert werden. In Russland und China übt die Regierung starken Einfluss auf die Berichterstattung in staatsnahen Medien aus.
Mangelnde Transparenz im ProzessAuf Nachfrage wollte eine Twitter-Sprecherin keine Angaben dazu machen, wie viele und welche Accounts markiert wurden. Nach eigenen Recherchen sind jedoch bereits mehr als ein Dutzend chinesische Accounts mit dem Hinweis versehen.
Die South China Morning Post, eine unabhängige Zeitung aus Hongkong, die nicht von der Kennzeichnung betroffen ist, weist darauf hin, dass auch einige chinesische Medien betroffen seien, die nicht staatlich finanziert sind, darunter das Nachrichtenportal Caixin Global.
Kampf gegen DesinformationErst vergangenen Monat hatte das soziale Netzwerk erneut mehr als 170 000 Accounts gelöscht, die wohl gezielt Desinformationen verbreiteten. Bereits vergangenes Jahr hatte Twitter Werbung von chinesischen Staatsmedien verboten und damit auf Desinformationskampagnen gegen die Proteste in Hongkong reagiert.
Ging es in der Vergangenheit noch ausschließlich um politische Inhalte, wurde diese Lücke für Unterhaltsseiten nun geschlossen: Sogar der iPanda-Account, der ausschließlich Videos von Pandas veröffentlicht, wurde nun als staatsnahes Medium markiert.
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Digitale Spionage: Google erlaubt weiterhin Werbung für Stalkerware
Software, die klar mit der Absicht vermarktet wird, andere ohne ihre Zustimmung auszuspionieren, darf ab dem 11. August nicht mehr auf Google beworben werden. So hatte es der Konzern mit der reichweitenstärksten Suchmaschine vor einigen Wochen in einem Update seiner Regeln vollmundig angekündigt.
Dieser Stichtag ist gekommen und vergangen – doch nach wie vor werben zahlreiche notorische Firmen weiter auf Google für ihre Produkte. Darüber hatte TechCrunch als erstes berichtet.
Häufig werden diese Apps vordergründig an Eltern vermarktet, die die Geräte ihrer Kinder überwachen wollen – eine ethisch umstrittene, aber legale Praxis. Forscher:innen haben jedoch aufgedeckt, dass die Apps auch eingesetzt werden, um Partner oder Partnerinnen auszuspionieren. Sie flankieren dort die physische und psychische Kontrolle, die Forschung spricht daher von „technologiegestützter Gewalt“. Die Hersteller wissen dies und bewerben ihre Produkte entsprechend in den Suchmaschinen.
Hersteller werben nach wie vorKoordiniert von der Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) läuft seit vergangenen Jahr eine internationale Kampagne, die dieser dubiosen Branche die Geschäfte schwer machen soll. Gewaltschutzorganisationen und Wissenschaftler:innen sind ebenso beteiligt wie die Hersteller von Antivirenprogrammen, die Stalkerware nun als ernsthafte Bedrohung ihrer Nutzer:innen anerkennen. In den USA ist die Bundeshandelsbehörde vergangenes Jahr gegen eine Firma vorgegangen.
Den größten Einfluss hat aber womöglich Google, in dessen Suchmaschine die Firmen ihre Produkte mit bezahlen Anzeigen massiv vermarkten. Wer dort „Freund/in Telefon überwachen“ eintippte, bekam zahlreiche Anzeigen serviert. Googles Ankündigung, künftig Werbung für Produkte zu verbieten, deren „expliziter Zweck“ darin besteht, andere ohne ihre Zustimmung zu überwachen, hatte also eine entsprechende Wucht.
netzpolitik.org konnte allerdings bei einer Suche am Tag nach dem Werbeverbot problemlos Anzeigen für zahlreiche der Apps auf Google finden – darunter FlexiSpy, mSpy, Hellospy und KidsGuard, die nach wie vor ihre Software bewerben.
Die Firmen nutzen eine Hintertür, die Google in der neuen Regelung explizit hat offen stehen lassen: Das Verbot gilt nicht für Produkte und Dienstleistungen, die für Eltern zur Überwachung ihrer minderjährigen Kinder gedacht sind.
FlexiSpy und KidsGuard präsentieren sich deshalb als Überwachungsapps für besorgte Eltern. Die Anzeige für mSpy taucht jedoch auch dann auf, wenn man „Handy Freundin überwachen“ in die Suchmaske tippt.
Die Anzeige für mSpy taucht auch bei einer Suche nach „Handy Freundin überwachen“ auf. CC-BY-NC-SA 4.0 Googles Hintertür steht weiter offenDie Ausnahme hatten Fachleute bereits nach Veröffentlichung der neuen Regeln kritisiert. Das Verbot sei damit nutzlos, denn die meisten der Apps würden heute schon mit dem Eltern-Narrativ als legale Software vermarktet.
Zugleich preisen viele Hersteller ihre Apps weiterhin explizit als illegales Spionagewerkzeug an. Das eine schließt das andere nicht aus. Auf der Seite von HelloSpy steht etwa: „HelloSPY ist eine einfach zu bedienende Spionageanwendung für die Überwachung von Kindern, Mitarbeitern und Ehepartnern.“ Bei KidsGuard steht, die Anwendung sei für „verschiedenste Bedürfnisse“ geeignet: „Erwische einen Partner beim Fremdgehen oder überwache Mitarbeiter“.
Ein Google-Sprecher sagte dazu: „Um betrügerischen Akteuren entgegenzuwirken, die versuchen, unser Produkt zu missbrauchen und sich der Durchsetzung unserer Richtlinien zu entziehen, achten wir bei der Beurteilung der Einhaltung der Richtlinien unter anderem auf verschiedene Signale wie den Anzeigentext, das Werbemittel und die Landing Page. Wenn wir feststellen, dass eine Anzeige oder ein*e Werbetreibende*r gegen unsere Richtlinien verstößt, ergreifen wir unmittelbar entsprechende Maßnahmen.“
Sichern auch Sie ihre Kinder mit mSpy. CC-BY-NC-SA 4.0 Spionage passiert auch ohne StalkerwareStalkerware in den Blick zu nehmen, wie die internationale Coalition Against Stalkerware dies tut, ist ein wichtiger Schritt. Lange konnten die Firmen ganz unbehelligt Profit aus der privaten Spionage schlagen. Die Produkte waren häufig so schlecht gesichert, dass die ohnehin schon intimen Informationen regelmäßig massenweise im Netz landeten. Die Verkäufer verstecken sich oft hinter Briefkastenfirmen.
Sicherheitsforscher:innen weisen jedoch darauf hin, dass Stalkerware womöglich keine so große Rolle spielt wie angenommen. So konnten Forscher:innen der Cornell University bei ihren Studien mit Betroffenen von Partnerschaftsgewalt nur einen einzigen Fall von installierter Stalkerware ausmachen. Wesentlich öfter spionierten Partner auf anderen, wesentlich banaleren Wegen: Sie errieten oder kannten ohnehin schon Passwörter zu E-Mail- oder Social-Media-Konten. Sie zahlten die Telefonrechnung und sahen deswegen angerufene Telefonnummern oder hatten über alte Geräte Zugriff auf GoogleDrive- und iCloud-Konten der Partnerin.
Update 13.8.: Wir haben den Beitrag um ein Statement von Google ergänzt.
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Urteil: Gericht erklärt automatisierte Gesichtserkennung in Südwales für illegal
Die Nutzung von automatisierter Gesichtserkennung durch die Polizei von Südwales ist illegal. Das hat ein Berufungsgericht nach einer Klage eines Bürgers aus Cardiff und der Bürgerrechtsorganisation „Liberty“ entschieden.
Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass es weder eine klare Regelung gegeben habe, wo die automatisierte Gesichtserkennung eingesetzt, noch wer auf die Watchlist gesetzt werden dürfe, die den Alarm des Überwachungssystems auslöst. Zudem sei der Datenschutz nicht ausreichend geregelt gewesen und die Polizei von Südwales habe keine angemessenen Schritte unternommen, um zu untersuchen, ob das System einen geschlechtsspezifischen oder rassistischen Bias habe.
Der Kläger Ed Bridges sagte nach dem Urteil: „Ich freue mich, dass der Gerichtshof anerkannt hat, dass Gesichtserkennung unsere Bürgerrechte eindeutig bedroht.“ Die Technologie sei ein aufdringliches und diskriminierendes Massenüberwachungsinstrument. Bridges fordert, dass alle Menschen öffentliche Räume nutzen können, ohne einer repressiven Überwachung ausgesetzt zu sein.
Die Liberty-Anwältin Megan Goulding nannte das Urteil „einen großen Sieg im Kampf gegen Gesichtserkennung“. Die vor Gericht unterlegene Polizei kündigte unterdessen an, dass sie nicht in Berufung gehen wolle.
Mobile Gesichtserkennung aus dem TransporterIn den Jahren 2017 bis 2019 hatte letztere unter anderem einen Kleintransporter zur mobilen automatisierten Gesichtserkennung genutzt, berichtete im Jahr 2019 die taz. Dieser wurde unter anderem auch für die Überwachung von Protesten gegen eine Rüstungsmesse genutzt.
Laut taz war die eingesetzte Technologie Neoface Watch von der japanischen Firma NEC. Das britische Innenministerium hatte den Test der South Wales Police mit zwei Millionen Pfund gefördert. Laut dem Gericht hat die Polizei das AFR Locate genannte System zwischen 2017 und 2019 etwa 50 Mal eingesetzt und dabei um die 500.000 Gesichter gescannt. Die Polizei habe zwischen 400 und 800 Menschen in der Watchlist gehabt, das System konnte etwa 50 Gesichter pro Sekunde scannen.
Schon beim ersten Einsatz der Technologie beim Champions-League-Finale 2017 in Cardiff kam das System in die Schlagzeilen: Es hatte mehr als 2.000 Menschen als mögliche Kriminelle markiert.
Die Polizei in Südwales hatte noch letztes Jahr vorgehabt, den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologien auszuweiten. Sie wollte damals Polizisten mit einer App ausstatten, damit diese bei Routinekontrollen die Gesichter der Überprüften scannen können.
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Bohnert-Berichterstattung: Welt am Sonntag mahnt Kritiker wegen Urheberrechtsverletzung ab
Die Welt am Sonntag aus dem Axel Springer Verlag hat den ND-Redakteur Daniel Lücking wegen einer Urheberrechtsverletzung abgemahnt. Er hatte am 2. August einen Artikel aus der gedruckten Zeitung abfotografiert und im Volltext über seinen Twitter-Account verbreitet. Zugleich kritisierte er in einer Serie von Tweets den Inhalt des Artikels, der sich unter anderem mit dem Fall des Social-Media-Leiters der Bundeswehr Marcel Bohnert und dessen Likes für rechtsradikale Instagram-Beiträge befasste. Lücking war selbst Soldat bei der Bundeswehr.
Daraufhin schaltete sich der Chefredakteur der Welt am Sonntag, Johannes Boie, persönlich ein. Er forderte Lücking auf, den Tweet innerhalb von einer Stunde wegen der begangenen Urheberrechtsverletzung zu löschen. Dem kam Lücking nach eigener Aussage acht Minuten später nach – er entfernte den Tweet mit dem Foto des Artikels.
Eine Abmahnung bekam Lücking dann am 5. August trotzdem, er sollte eine strafbewehrte Unterlassungserklärung unterschreiben und 864,66 Euro bezahlen. Außerdem bezifferte die Welt am Sonntag einen Schadenersatzanspruch in Höhe von 600 Euro.
WamS-Chefredakteur forderte Löschung des TweetsLücking hatte sich in die Kontroverse um die Recherche des NDR-Magazins „Panorama“ um Bohnerts Likes intensiv eingebracht. Auch der Chefredakteur der Welt am Sonntag beteiligte sich an der Debatte: In einem Kommentar hatte er dem NDR unseriösen Journalismus vorgeworfen.
Lücking kritisierte im Rahmen eines Threads unter seinem Volltext-Foto nicht Boies Kommentar, sondern die WamS-Recherche „Ein Mann macht Meldung“ als ungenau. In dem Text heißt es zum Beispiel, dass der Social-Media-Leiter der Bundeswehr Bohnert im Beitrag des NDR „nicht zu Wort“ gekommen sei.
Diese Formulierung ist keine unwahre Tatsachenbehauptung, aber irreführend, denn sie suggeriert den Leser:innen die nachweislich falsche und von rechten und rechtsradikalen Kreisen gepflegte Lesart, dass das NDR-Magazin Panorama den Bundeswehrmitarbeiter nicht mit seiner Recherche konfrontiert habe.
Das Gegenteil war jedoch der Fall. Panorama hatte den Social-Media-Leiter um eine Stellungnahme gebeten, doch der hatte sich gegenüber dem Polit-Magazin nicht geäußert, sondern erst nach der NDR-Veröffentlichung – in Springers Bild-Zeitung. Nach der regen Debatte und etwa eine Woche nach dem klärenden Statement der Panorama-Redaktion hätte die Welt am Sonntag dies anders formulieren müssen, sagt Lücking.
„Die Analyse des Welt am Sonntag-Artikels erforderte aus meiner Sicht die Veröffentlichung des gesamten Artikels, weil ich deutliche handwerkliche Vorwürfe erhoben habe“, sagt Lücking gegenüber netzpolitik.org. Daher habe er in seinem Twitter-Thread den Chefredakteur Johannes Boie auch direkt angesprochen, der sei aber nicht auf die inhaltliche Kritik eingegangen. Stattdessen kam die Abmahnung.
Abmahnungen wegen solcher Urheberrechtsverletzungen äußerst seltenEin Pressesprecher des Axel Springer Verlags sagt gegenüber netzpolitik.org, dass die von Lücking via Twitter geäußerte Kritik an der Berichterstattung der Welt am Sonntag und die Debatte mit dem Chefredakteur Johannes Boie „überhaupt keine Rolle“ gespielt hätten für die Entscheidung, Lücking abzumahnen, sondern „allein seine offensichtliche urheberrechtliche Störung“. Der Verlag begründet die Abmahnung auch damit, dass Lücking seine Follower:innen ausdrücklich gefragt hatte, ob der Artikel „lesbar“ sei. Außerdem sei der Tweet mit dem Artikel zu einem Zeitpunkt gepostet worden, als die Welt am Sonntag mit dem Text in sozialen Medien um Käufer:innen geworben habe. Neben dem Chefredakteur Boie hatte der rechte Welt-Kolumnist Don Alphonso den Artikel auf Twitter angepriesen.
Unsere eigene Recherche zeigt indes, wie ungewöhnlich die Abmahnung von Daniel Lücking ist. Bislang verfolgen Verlage diese Art von Urheberrechtsverletzungen kaum. Das ergab eine stichprobenartige Umfrage von netzpolitik.org bei verschiedenen deutschen Verlagen.
So haben beispielsweise die taz und der Spiegel-Verlag im Jahr 2020 nach eigenen Angaben keine einzige Abmahnung wegen solcher Urheberrechtsverletzungen verschickt. Beim Axel Springer Verlag beläuft sich die Zahl der Abmahnungen für Welt, Welt am Sonntag, Bild und deren Online-Produkte „im niedrigen einstelligen Bereich“, wie die Pressestelle mitteilt. Die Abmahnung an den Kritiker Lücking ist also das, was man klassisch einen Einzelfall nennt.
Lücking bezahlt AbmahnungLücking hat den Anwälten des Axel Springer Verlags mit einer ausführlichen Stellungnahme geantwortet, und vorgeschlagen, dass der Verlag auf seine Anwaltskosten verzichtet. Gleichzeitig hat er eine Unterlassungserklärung unterschrieben. Laut seiner Auskunft bestanden die Anwälte der Welt am Sonntag jedoch auf der Zahlung der Anwaltskosten. Lücking hat mittlerweile die Abmahnsumme bezahlt und auch der Axel Springer Verlag sieht die Sache nun als erledigt an.
Redaktionelle Offenlegung: Daniel Lücking war im Jahr 2016 Praktikant bei netzpolitik.org.
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Gesichtserkennung in Madrid: Videokameras überwachen unbemerkt Millionen Fahrgäste
Südlich der Stadtmitte Madrids liegt einer der größten Busbahnhöfe Spaniens, rund 20 Millionen Fahrgäste werden in „Méndez Álvaro“ jährlich abgefertigt. Was bislang aber kaum jemand wusste: Die biometrischen Gesichtsdaten der täglich mehr als 50.000 Passagiere werden seit 2016 automatisch aufgenommen, ausgewertet und eine Zeit lang gespeichert. Ziel der Überwachung ist es Personen aufzuspüren, die von der Polizei mit Haftbefehl gesucht werden oder in der Vergangenheit am Bahnhof durch Diebstahl aufgefallen sind.
Die Zusammenarbeit zwischen dem privaten Betreiber des Busbahnhofes, dem Hersteller der Gesichtserkennungs-Software und der spanischen Polizei ist charakteristisch für die Einführung neuer Überwachungswerkzeuge. Über persönliche Kontakte werden so immer wieder neue Technologien implementiert und erst im nach hinein auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.
Kooperation zwischen Polizei und ÜberwachungsindustrieFür AlgorithmWatch hat die Journalistin Naiara Bellio López-Molina rekonstruiert, wie der Hersteller der Gesichtserkennungs-Software den damaligen Chef für den Bereich Sicherheit an der Busstation umwarb und von dem Einsatz der Gesichtserkennung überzeugte. Später tritt der Sicherheitschef sogar in einem Werbevideo von Herta Security auf, dem spanischen Software-Unternehmen.
Fahrgäste und Ladenbesitzer:innen, deren biometrischen Profile – „Gesichtsabdrücke“ – seither erhoben und analysiert werden, wurden nicht benachrichtigt. Im Live-Einsatz werden seit vier Jahren die sich an der Station aufhaltenden Besucher:innen mit Fotos aus polizeilichen Datenbanken sowie einer Liste an Personen abgeglichen, die in der Vergangenheit dem Sicherheitspersonal negativ aufgefallen sind. Gibt es einen Treffer, wird ein Alarm ausgelöst.
Das rund um die Uhr aufgezeichnete Videomaterial und die daraus gewonnenen Gesichtsprofile werden laut dem Einsatzteam in der Regel für 30 Tage gespeichert. In dieser Zeit ist eine Recherche nach einzelnen Person anhand eines Fotos möglich, erst danach wird gelöscht.
Fehlende ÜberprüfbarkeitDas Projekt sei ein voller Erfolg, behauptet das Unternehmen, das die Hardware installiert hat. Es sei ein deutlicher Rückgang an „Vorfällen“ verzeichnet worden, heißt es in einer Werbebroschüre. Überprüfbare Zahlen und Vergleichswerte lieferte das Unternehmen auf Nachfrage von López-Molina jedoch nicht.
So weist die Journalistin etwa darauf hin, dass zwischen 2014 bis 2016 das gesamte Sicherheitskonzept an der Busstation überarbeitet und unter anderem die Beleuchtung verbessert wurde. Zugleich war mehr Sicherheitspersonal als früher anwesend, was ebenfalls zu angeblich geringeren Fallzahlen beigetragen haben könnte.
In der Öffentlichkeit wurde der Einsatz von Gesichtserkennungs-Software am Busbahnhof von Madrid bisher kaum diskutiert. Erst letzten Monat wurde bekannt, dass eine große spanische Supermarkt-Kette den Einsatz von Biometrie zur Verfolgung von Diebstahl einsetzt, allerdings zunächst in einer Testphase.
Eine gesetzliche Grundlage benötigt es wohl nicht zwingend, weil das öffentliche Interesse an der Identifizierung von mit Haftbefehl gesuchten Personen gegenüber Datenschutzinteressen überwiege und Löschfristen eingehalten würden, schreibt López-Molina. Hinzu komme, dass eine europäische Richtlinie zur Datenverarbeitung bisher nicht in spanisches Recht umgesetzt worden sei.
Keine Gesichtserkennungs-Projekte in Deutschland geplantIn Deutschland gibt es bisher keinen Einsatz von automatisierter Gesichtserkennung in vergleichbaren Umfang. Es seien nach den Tests am Berliner Bahnhof Südkreuz derzeit keine Live-Gesichtserkennungsprojekte der Bundespolizei geplant, schreibt die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage von Ulla Jelpke (Die Linke), die netzpolitik.org vorliegt. Sollte in Zukunft eine Live-Videoüberwachung mit Gesichtserkennung an Bahnhöfen oder Flughäfen beabsichtigt sein, müsse aus Sicht der Bundesregierung zunächst eine Rechtsgrundlage geschaffen werden.
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Was vom Tage übrig blieb: Moneten, Minister, Maximaltemperaturen
Tim Cook ist jetzt Milliardär (Spiegel Online)
Laut der Bloomberg-Reichenliste ist der Apple-Chef nun Milliardär. Das liegt zu einem guten Teil an seinen Aktienanteilen am Riesenkonzern. Ob er denn wirklich Dollarmilliarden hat, ist ein wenig unsicher, denn er könnte auch einen Teil bereits gespendet haben. Aber wie bei Kylie Jenner, deren Vermögen ebenso umspekuliert ist: Es reicht wohl für ein Finanzsorgen-armes Leben. Eine eigene Uno-Ausgabe wie der Jenner-Sprössling hat Cook wahrscheinlich bisher noch nicht geplant.
Deauther: Legal, illegal, Einzelfall (Golem.de)
Golem.de berichtet über die Nutzung von Deauthern durch Hochschulen und die rechtliche Situation. Die Universitäten nutzen solche Geräte teilweise, um Fremd-WLANs zu unterdrücken. Laut Bundesnetzagentur ist diese Praxis rechtlich nicht immer ganz einfach.
Neue Bundesbehörde: Offizieller Startschuss für Cyberagentur (tagesschau.de)
Der Bundesrechnungshof zweifelte an ihrem Nutzen, trotzdem wurde heute die offizielle Gründung der Cyberagentur besiegelt. Sie sitzt erstmal übergangsweise in Halle und soll sich um Cybersicherheit kümmern. Wer eigentlich nicht?
Jeden Tag bleiben im Chat der Redaktion zahlreiche Links und Themen liegen. Doch die sind viel zu spannend, um sie nicht zu teilen. Deswegen gibt es jetzt die Rubrik „Was vom Tage übrig blieb“, in der die Redakteurinnen und Redakteure gemeinschaftlich solche Links kuratieren und sie unter der Woche um 18 Uhr samt einem aktuellen Ausblick aus unserem Büro veröffentlichen. Wir freuen uns über weitere spannende Links und kurze Beschreibungen der verlinkten Inhalte, die ihr unter dieser Sammlung ergänzen könnt.
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Recht auf Internet: Nicht bis zur letzten Milchkanne
5G bis zur letzten Milchkanne sei nicht notwendig, sagte vor wenigen Jahren die Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU). Nun sieht es danach aus, dass so manche Milchkanne auch keine Festnetzleitung erhalten wird, um etwa ihren Füllstand über das Internet mitzuteilen. In diesen Fällen müsse Internet über Satellit einspringen, möglicherweise mit staatlicher Subventionierung, heißt es aus Regierungskreisen.
Eigentlich hatte die Regierung bei ihrem Amtsantritt angekündigt, bis 2025 das gesamte Bundesgebiet mit schnellem Festnetzinternet versorgen zu wollen. Mehr noch: Der Anspruch darauf sollte gesetzlich verankert und einklagbar werden.
„Die flächendeckende Versorgung mit Telekommunikationsdiensten trägt zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet bei und gewährleistet die soziale und wirtschaftliche Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger“, heißt es in einem Entwurf der Novelle des Telekommunikationsgesetzes (TKG), das dieses Recht festschreiben soll.
Schwache Regelung mit SchlupflöchernSchon der erste durchgesickerte Referentenentwurf deutete darauf hin, dass die Regelungen zum sogenannten Universaldienst schwächer ausfallen würden als es sich viele gewünscht hatten. Mindestbandbreiten enthält die Novelle beispielsweise nicht.
Stattdessen soll die Bundesnetzagentur anhand bestimmter Kriterien entscheiden, ob ein Gebiet als angemessen versorgt gilt. Herangezogen werden soll in erster Linie die Mindestbandbreite, die 80 Prozent der Verbraucher:innen im Bundesgebiet erreichen.
Das soll Anwendungen wie Videoanrufe oder „insbesondere Teleheimarbeit“ ermöglichen, um die ressourcenintensivsten Dienste zu nennen, welche die Gesetzesbegründung anführt. Letztlich werden jedoch die Regulierer entscheiden, ob eine Klötzchenauflösung ausreicht oder ob damit vollwertige Remote-Desktop-Anwendungen gemeint sind.
Allein bei diesem Schlupfloch bleibt es aber augenscheinlich nicht. Im Entwurf steht ferner, dass die Bundesnetzagentur von solchen Vorgaben für das gesamte Bundesgebiet oder für Teile davon absehen kann, „wenn eine Anhörung der betroffenen Kreise ergibt, dass die vorgegebene Dienstequalität als weithin verfügbar erachtet wird“.
Mobilfunk oder Satellit als AlternativeAus Regierungskreisen ist nun zu vernehmen, die Passage ziele auf besonders schwer erschließbare Gegenden ab – obwohl eine Pressemappe der für die Novelle verantwortlichen Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur in Bezug auf den Universaldienst ausführt: „Der Anspruch soll insbesondere für besonders schwer erschließbare Randlagen greifen, die mittelfristig nicht von Förderprojekten erreicht werden.“?
Demnach soll für die berühmte Milchkanne auf einem abgelegenen Bergbauernhof keine eigene – und in solchen Fällen meist sehr teure – Leitung gelegt werden. Alternativ könnte eine Versorgung mit Mobilfunk herhalten. Ist eine solche nicht vorhanden, was angesichts der zumindest derzeit löchrigen Mobilfunkinfrastruktur Deutschlands gut möglich ist, dann bleibe eben noch eine Anbindung über Satelliteninternet, heißt es.
Solche Anbieter gibt es schon länger auf dem Markt. Allerdings zeichnen sich deren Angebote bislang durch geringe Bandbreiten, hohe Latenzen und knappe Datenvolumina aus, bei überdurchschnittlich hohen monatlichen Kosten. Zwar drängen zuletzt neue, große Anbieter auf den Markt, SpaceX etwa oder Amazon, mit Festnetz- oder gar Glasfaserleitungen können sie aber noch lange nicht mithalten.
Förderprogramm für Receiver „angedacht“Dazu kommen noch relativ teure Anschaffungskosten für die notwendigen Receiver. Um zumindest diesen Posten abzudecken, soll die Regierung mit dem Gedanken spielen, ein eigenes Förderprogramm aufzulegen. Demnach würde der Bund für diese einmalige Investition aufkommen, die monatlichen Kosten müssten die Verbraucher:innen bezahlen.
Selbst das aber könnte sich mit einer anderen Regelung beißen. So schreibt die derzeitige Formulierung im Entwurf vor, dass die „Versorgung mit Telekommunikationsdiensten zu einem erschwinglichen Preis“ erbracht werden sollte.
Aber wie so vieles in diesem umfangreichen Gesetz, das eigentlich schon längst hätte offiziell präsentiert werden sollen, wird vieles von der finalen Formulierung abhängen – und davon, wie weit die Bundesnetzagentur bereit ist zu gehen.
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Corona: Sächsisches Innenministerium verschwieg Übermittlung von Infizierten-Listen an Polizei
Das sächsische Innenministerium hat die Übermittlung von Corona-Listen an die Polizei verschwiegen. Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge waren im März und Anfang April Daten von Infizierten sowie von Menschen in häuslicher Quarantäne weitergegeben worden. Von den Maßnahmen waren womöglich mehr als Tausend Personen betroffen – wie viele es wirklich sind, ist unbekannt, da sich die Datensätze überschneiden. Bekannt wurde all dies durch die Antworten von Innenminister Roland Wöller (CDU) auf zwei Kleine Anfragen von Kerstin Köditz, innenpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Landtag (7/2257, 7/2839).
Am 27. März hatte ein Sprecher des Innenministeriums netzpolitik.org noch schriftlich mitgeteilt: „Der Polizei Sachsen liegen keine Daten vor, wer mit dem Coronavirus infiziert wurde.“ Eine Falschbehauptung, wie sich nun herausstellt. Auch auf unsere erneute Nachfrage einen Monat später hatte die Behörde ihre Darstellung nicht korrigiert. Wöller selbst habe von der Übermittlung erst Mitte Juni erfahren, behauptet sein Ministerium und räumt nun eigene Fehler ein.
E-Mail des Sächsischen Innenministeriums vom 27. März netzpolitik.orgWie eine Sprecherin uns an diesem Montag mitteilte, habe die Pressestelle auf unsere Anfrage im März geantwortet, ohne Rücksprache zu halten – etwa mit den Polizeidienststellen, bei denen sensible Gesundheitsdaten in großer Zahl eingegangen waren. So sei es zu der falschen Aussage gekommen. „Das ist ein Missstand, den wir in Zukunft beheben müssen.“
Umso kurioser wirkt die Antwort vor dem Hintergrund, dass wir im März zuvor noch gefragt hatten, ob es richtig sei, zu schreiben, das Ministerium wisse gar nicht, ob seine Polizei Zugang zu Corona-Listen habe. „Nein, das wäre inhaltlich falsch“, teilte der Sprecher damals mit. Und nun gibt dieselbe Behörde an, genau dies sei damals der Fall gewesen.
Übermittlung begann schon Anfang MärzDie Übermittlung der Corona-Listen in Sachsen begann der Behörde zufolge am 5. März. Das Ministerium gibt an, die Polizeidirektion Dresden habe die Gesundheitsdaten beim Landratsamt in Pirna erbeten. Dieses ist für den Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge zuständig, wo damals gerade der erste Corona-Fall Sachsens festgestellt worden war. In den Datensätzen, die per E-Mail an die Polizei gingen, waren Namen und Adressen von Betroffenen enthalten.
Die Übermittlung an die Polizeidirektion erfolgte über einen Zeitraum von elf Tagen. Anders als vom Innenministerium zunächst behauptet, wurde sie damit nicht „unverzüglich“ eingestellt. Am 17. März löschte die Polizei angeblich alle Daten. 114 Menschen waren nach Angaben des Ministeriums von dieser Weitergabe betroffen – eine Zahl, die wohl nur deshalb relativ niedrig ausfiel, weil die Verbreitung des Virus in Sachsen noch am Anfang stand.
Am 23. März vereinbarte der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge abermals eine Weitergabe von Corona-Listen, diesmal an die Polizeireviere Sebnitz, Freital-Dippoldiswalde und Pirna. Gestoppt wurde sie erst am 5. April — zwei Tage nachdem das Innenministerium die pauschale Übermittlung von Infizierten-Daten per Erlass verboten hatte. Wie aus Wöllers Antworten hervorgeht, kamen bei den Polizeirevieren insgesamt Tausende, seither angeblich gelöschte Datensätze zusammen.
Landkreis ließ Anfrage Ende April unbeantwortetAuch der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge trägt Verantwortung an dem Informationsdebakel. Wir hatten uns dort schon am 30. April erkundigt, ob der Kreis Corona-Listen an die Polizei gegeben hatte. Hätte das Landratsamt damals Auskunft gegeben, wäre die Übermittlung schon vor langer Zeit ans Licht gekommen. Das Amt bat jedoch zunächst um Fristverlängerung und ließ unsere Anfrage dann gänzlich unbeantwortet.
E-Mail des Landratsamts Pirna vom 4. Mai netzpolitik.orgEin Versehen, wie eine Sprecherin uns an diesem Montag schreibt. Wie schon beim Innenministerium will auch das Landratsamt nicht absichtlich so gehandelt haben. „Es kann auf keinen Fall die Rede davon sein, dass hier etwas vertuscht werden sollte.“
Der Kreis spricht inzwischen selbst von einer „ungerechtfertigten Datenübermittlung“ und kündigt an, den Vorfall konsequent aufzuarbeiten – „um künftig derartige Verstöße auszuschließen“. Ein Findungsprozess, der offenbar Zeit brauchte.
Denn der Kreis hat den Vorgang mittlerweile zwar beim Landesdatenschutzbeauftragten Andreas Schurig angezeigt, allerdings erst am 4. Juni – also rund zwei Monate, nachdem die Weitergabe durch den Erlass des Innenministeriums gestoppt worden war. Auch die Polizeidirektion Dresden soll Schurig am 9. Juli informiert haben. Der Landesdatenschutzbeauftragte selbst äußerte sich gegenüber netzpolitik.org zu den Vorgängen auf Anfrage nicht.
Die Betroffenen wurden nie informiertVon all dem hätten die Betroffenen jedoch nichts erfahren, obwohl das Sächsische Gesundheitsdienstgesetz eine Benachrichtigung vorsehe, so das Innenministerium. Kerstin Köditz fordert nun, dass dies zügig nachgeholt werde. „Für mich am bedenklichsten: Dem Innenministerium war der gesamte Umfang der Übermittlungen zunächst nicht bekannt, man bekam das nach eigenen Angaben erst bei der Beantwortung meiner Kleinen Anfrage mit“, so die Linken-Landtagsabgeordnete in einer Pressemitteilung.
Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, äußerte gegenüber netzpolitik.org seine Verwunderung hierüber. Er selbst habe wie wir Ende März beim Innenministerium angefragt, ob Daten an die Polizei gegeben würden und keine wahrheitsgemäße Antwort erhalten.
„Der Vorgang wirft Fragen zur Informationsweitergabe auf“, sagte Lippmann. „Aufgrund der besonderen Sensibilität des Themas wäre eine aktive und unverzügliche Information des Innenministeriums darüber, dass es zumindest in einem Landkreis zur Weitergabe von Daten über Infizierte gekommen ist, angezeigt gewesen.“
Sachsen ist nun bereits das sechste Bundesland, bei dem bekannt wird, dass Corona-Listen an die Polizei geschickt wurden. Anfang April waren die Übermittlungen in Baden-Württemberg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen zu einem Politikum geworden. Zum Teil hatten Datenschützer:innen sie gestoppt. Später stellte sich heraus, dass auch Sachsen-Anhalt Daten von Menschen in Quarantäne an die Polizei übermitteln ließ. Das dortige Landesinnenministerium hatte dies wie nun auch in Sachsen zunächst verschwiegen.
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